Durch den Monat mit Judith Giovannelli-Blocher (4): Sind Sie eine Bourgeoise?
Judith Giovannelli-Blocher ärgert sich darüber, dass das Bücherschreiben einen Menschen offenbar wertvoller macht, und glaubt, dass sozialarbeiterische Fähigkeiten Ehen retten können.
WOZ: Frau Giovannelli, wenn Sie über Ihren Mann, Sergio Giovannelli, schreiben, klingt das manchmal so, als wäre er Ihr Klient und Sie seine Sozialarbeiterin. Leiden Sie an einer Déformation professionnelle?
Judith Giovannelli-Blocher: Vielleicht. Ich führe hier einen dauernden Kampf mit mir selber. Ich vermute aber, dass es diesen Kampf in allen Ehen gibt, die über grosse soziale Unterschiede hinweg gewachsen sind. Mein Mann kam als Fremdarbeiter 1963 in die Schweiz, weil er in Ligurien keine Perspektive mehr hatte – ich hingegen habe einen bürgerlichen Hintergrund und musste nie ans Auswandern denken.
Haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Jean-Paul Sartre sagte einmal: «Das schlechte Gewissen ist eine Eigenschaft der Bourgeoisie.» Ich stelle einfach immer wieder fest, dass mein Mann nicht wahrgenommen wird. Dann will ich ihn verteidigen oder halte überdimensionierte Lobreden auf ihn, die er eigentlich gar nicht nötig hat.
Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Mann nicht wahrgenommen wird?
Ich muss differenzieren: in seinem Umfeld, zum Beispiel in gewerkschaftlichen Organisationen, schon. Aber in meinem bürgerlichen Umfeld nicht. Da spielt auch eine Rolle, wie er sich gibt. Häufig sagen die Leute, dass sie ihn sprachlich nicht verstehen, was ihn sehr verletzt. Dabei geht es eigentlich nicht darum, dass Sergio die Sprache nicht kann, er ist ausgesprochen sprachbegabt, sondern dass er sich so ausdrückt, dass man ihn nicht verstehen kann.
Wieso tut er das?
Es ist eine Ausdrucksweise von Menschen, die von vornherein wissen oder glauben, dass man ihnen sowieso nicht zuhört. Er umschifft manchmal die entscheidenden Stichworte, die verständlich machen, worum es eigentlich geht. Mir scheint, als wolle er mit diesen üppigen Umschreibungen sein Gegenüber heranziehen, zu einer absoluten Aufmerksamkeit bringen.
Ihr Mann hat ebenfalls sein Leben aufgeschrieben. Sein Buch ist nach dem Gefangenenchor in Verdis «Nabucco» benannt: «Va’ pensiero». In etwa: Flieg, Gedanke.
Sergios Buch war für mich eine ungeheure Überraschung, er hat es 2007 in einem Schnurz niedergeschrieben. Und die Kritik sprach von einem richtigen Wurf! Sergio hat sich mit diesem Buch befreit, er hat gezeigt, wer er eigentlich ist. Und plötzlich war das Interesse da: Der Philosoph Hans Saner sagte mir, es sei eine der ehrlichsten und grundlegendsten Biografien, die er je gelesen habe.
Stört es Sie nicht, dass Ihr Mann zuerst ein Buch schreiben musste, bevor ihm Anerkennung und Respekt widerfuhren?
Doch, das ist auch mein Schmerz: Mein Mann, der immer noch genau derselbe Mann ist wie vor dem Buch, hat in meinem Umfeld plötzlich einen ganz anderen Status genossen. Es ist nicht einfach, damit umzugehen. Ich habe nach meinem ersten Buch eine ähnliche Erfahrung gemacht: Das Autorin-Werden erhöht den sozialen Status gewaltig. Ich muss aber auch betonen: Ich habe unglaublich von meinem Mann gelernt. Andererseits: Ohne mein professionelles Wissen aus der Sozialarbeit wäre unsere Ehe vielleicht schon lange zerbrochen.
Sie bleiben also für immer Sozialarbeiterin?
Ich stand jedenfalls immer voll und ganz zu meinem Beruf, war aber gleichzeitig auch eine Querdenkerin. Es kommen immer wieder ehemalige Kolleginnen zu mir und sagen: «Judith, komm auf unser Podium, du verkörperst die Sozialarbeit wie keine Zweite.» Dann sage ich: «Ihr spinnt doch, ihr habt mich ja immer bekämpft.» So ist es bei mir auch mit der Kirche. Man kritisiert, was man liebt. Die Sozialarbeit ist wegen des doppelten Mandats sowieso ein widersprüchlicher und deshalb auch ein unglaublich spannender Beruf.
Was heisst doppeltes Mandat?
Wir arbeiten gleichzeitig für den Staat und die ganze Gesellschaft. Soziale Einrichtungen haben Werte, die nicht jene der Sozialarbeiter sind. Wir sind in der Regel wenig einflussreiche Leute, selten in Machtpositionen. Wir behaupten, wir seien in einem Menschenrechtsberuf. Das ist ein hehres Ziel, aber es verschleiert die winzigen Handlungsspielräume.
Von 1987 bis 1993 waren Sie Präsidentin der Berner Härtefallkommission für abgewiesene Asylsuchende. Wie war es dort mit den Handlungsspielräumen?
Es ist an so einem Ort wie überall im Asylwesen: absurd. Die arme Simonetta Sommaruga [seit November 2010 Schweizer Justizministerin], sie hat es schwer auf ihrem Posten.
Weshalb?
Sie ist eine Perfektionistin mit festen Grundüberzeugungen. Im Asylwesen muss man aber wursteln können! Sonst kommt man nirgendwo hin. Und je mehr Verantwortung man hat, desto mehr muss man den Kopf für Dinge hinhalten, die man bekämpft hat. Trotzdem braucht es in der Verwaltung neben den vielen Mitläufern und eher wenigen Scharfmachern auch Reformer. Leute, die pragmatisch und gleichzeitig mit Mut und humanistischer Überzeugung arbeiten. Diese Leute sind die Rettung, immer, für alles.
Judith Giovannelli-Blocher (79) war vierzig Jahre lang theoretisch und praktisch in der Sozialarbeit tätig.
Sergio Giovannelli-Blocher: «Va’ pensiero. Geschichte eines Fremdarbeiters aus Ligurien». Edition 8. Zürich 2007. 296 Seiten. 35 Franken.