Durch den Monat mit Judith Giovannelli-Blocher (3): Sind Sie Utopistin?
In dreissig Jahren sollten wir ein bedingungsloses Grundeinkommen haben, meint Judith Giovannelli-Blocher. Dafür müsste der Immobilienmarkt reguliert werden. Die Liebe allerdings, die ist immer unberechenbar geblieben.
WOZ: Frau Giovannelli, letzte Woche wurde die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen lanciert. Auch Sie setzen sich dafür ein. Weshalb?
Judith Giovannelli-Blocher: Ich war im letzten Jahr an diesem Kongress in Zürich. Ich war beeindruckt: So viele hungrige Gesichter. Die Sehnsucht nach mehr Freiheit, nach mehr Möglichkeiten war im Kongresshaus richtig greifbar. Und dann kommt Roger Köppel und sagt: «So ein Unsinn!» Der Saal heulte. Aber dieser Köppel hielt seine felsenfeste Überzeugung durch bis zum Schluss. Neben ihm sass der ehemalige UBS-Ökonom und Grundeinkommensbefürworter Klaus Wellershoff.
Am Ende war klar: Es geht hier um zwei ganz verschiedene Menschenbilder. Köppel sagte: «Der Mensch arbeitet nicht, wenn er nicht muss.» Wellershoff entgegnete: «Nein, wenn der Mensch die Möglichkeit hat, sich aus freien Stücken seinen Interessen gemäss zu betätigen, dann arbeitet er auch. Weil Arbeit ein Grundbedürfnis des Menschen ist.» In der Schweiz dominiert natürlich Köppels Menschenbild. Das braucht mindestens dreissig Jahre, um eine Mehrheit an der Urne zu einem Umdenken zu bewegen. Allerdings bin ich auch davon überzeugt, dass das heutige System nicht mehr dreissig Jahre hält. Das ist alles so unwürdig.
Was ist unwürdig?
Denken Sie an die Behinderten: Die machen in diesem starren IV-System nur schon fast den Doktor, wenn sie vorübergehend keine Rente wollen, weil sie zwischenzeitlich eine bewältigbare Arbeit gefunden haben, später die Rente aber wieder brauchen. Das ist bürokratisch hochkomplex. Eine Freundin von mir – hochintelligent –,die an einer Schizophrenie leidet, bekommt am Tag ungefähr dreissig Franken fürs Büchereinräumen in einer Bibliothek. Das ist unwürdig. Gleichzeitig weiss bei ihr niemand, wann wieder ein Schub kommt. Hier brauchen wir viel mehr Flexibilität im System. Das Grundeinkommen würde vieles vereinfachen und gleichzeitig mehr Verantwortung von jeder und jedem verlangen. Und viele, wie diese Freundin von mir, leben eigentlich schon ewig von einem Grundeinkommen: Als sie in verantwortungsvoller Stellung im Buchhandel war, arbeitete sie wegen der Krankheit auch nur noch halbtags und lebte von weniger als 2000 Franken im Monat.
Damit kommt heute niemand mehr durch.
Doch, genau dafür müssen wir sorgen.
Wie denn?
Der Immobilienmarkt muss so reguliert werden, dass genügend billiger Wohnraum vorhanden ist. Es geht darum, die Leute von starren Regeln zu befreien. Heute müssen wir zuerst jahrzehntelang arbeiten und dann pensioniert sein. Das sind wahnsinnige Fesseln. Zudem funktioniert es nicht immer: Mein Mann hat als ehemaliger Fremdarbeiter und mit seinen behinderten Händen immer voll gearbeitet, qualitativ hochwertige Dienste geleistet. Er war Produktekontrolleur: Mikroskope, elektronische Anzeigetafeln. Trotzdem wurde er immer nur wie ein Hilfsarbeiter bezahlt, und so schaute dabei eine mickrige Pension von 1600 Franken heraus. Wären wir nicht verheiratet, müsste er Ergänzungsleistungen beziehen. Das ist doch eine Schande. Andererseits ist unser Komfort auch eine riesige Belastung. Den ganzen Kram müssen wir uns verdienen, wissen, wie alle diese Apparate funktionieren! Deshalb gibt es bei meinem Mann und mir kein Internet.
Dafür freie Sicht auf den Bielersee.
Ja, aber in unserem Dreissigfamilienhaus, in dem wir seit kurzem wohnen, gibt es sehr viele ganz normale Leute. Neben uns eine Frau, die im Coop arbeitet, eine andere ist bei der Post, und unten wohnt ein dunkelhäutiger Speisewagenkellner.
Sie hatten in den siebziger Jahren ein Verhältnis mit Konrad Farner, dem Zürcher Kunsthistoriker und Kommunisten. Sie schreiben, dass Sie von ihm das Geniessen gelernt haben. Feiert die hedonistische Linke mit der Grundeinkommens-Initiative eine Renaissance?
Nun, ich weiss nicht, was Sie für ein Bild von Konrad Farner haben. Er hatte ein ganz winziges Portmoneeli mit ganz wenig Batzeli drin. Aber Farner war kein Feind des Luxus. Meine puritanische Familie hingegen war immer prinzipiell gegen allen Luxus. Konrad sagte: Einen guten Wein, einen schönen Anzug, eine wunderbare Wohnung – das soll man sich leisten können, aber der Reichtum muss dabei gut verteilt sein. Das war für mich das Neue: Ich dachte, der arme Kommunist sitzt in seiner winzigen Dachkammer und friert, der Asket. Aber nein! Er hatte allerdings auch reiche Freunde und eine Frau aus dem Schweizer Patriziat.
Sie waren damals die Geliebte eines verheirateten Mannes.
Das kam für mich eigentlich nie in Frage. Nie! Dann sagte er: «Ich weiss, dass du dich nicht darauf einlassen willst, aber ich höre deswegen nicht auf, dich zu lieben», und schrieb mir jeden Tag mehrere Briefe. Mit der Zeit fragte ich mich: Was ist jetzt eigentlich christlich? Muss ich dieser Liebe aus Respekt gegenüber der ehelichen Liebe widerstehen oder viel eher meinem Herzen folgen und mich dafür weltlich gesehen verschuldigen? Irgendwann bin ich dann zu ihm in die Toskana gefahren …
Judith Giovannelli-Blocher (79) wohnt in Biel mit ihrem Mann Sergio Giovannelli in einer grossen Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung im siebten Stock einer Grossüberbauung. Zum See ist es nicht weit.