Porträt eines Aussteigers: Ein geld- und papierloser Weltbürger
Die Schweiz diskutiert über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Elf Pavlik ist bereits einen Schritt weiter. Seit über drei Jahren lebt er gänzlich ohne Geld und Papiere. Gut gelaunt, gut genährt und voller Hoffnungen.
Wenn Elf Pavlik den öffentlichen Verkehr benutzt, hängt er sich ein mit Klarsichtfolie überzogenes Schild um den Hals. «No Ticket», ist in fetten roten Lettern darauf zu lesen. Ein Schwarzfahrer also! Das dachte sich wohl auch der Kontrolleur der Basler Verkehrsbetriebe (BVB), als er den 29-Jährigen kurz nach Ostern in einem Tram erwischte. Wahrscheinlich erwartete der Kontrolleur die üblichen Ausreden, doch Pavlik erklärte dem Kontrolleur höflich, was er in solchen Situationen immer erklärt: dass er ganz bewusst kein Ticket kauft, weil er seit drei Jahren strikt ohne Geld lebt. Und Papiere könne er auch nicht vorweisen, er habe seine amtlichen Dokumente allesamt zerstört, da er Staaten und deren Institutionen ablehne. Dann bietet er dem Kontrolleur eine Gegenleistung an: Er möchte für die Verkehrsbetriebe ein Computersystem programmieren, das den NutzerInnen ermöglicht, nützliche Dienste anzubieten.
«Die Beamten hier nehmen es ziemlich genau», sagt Pavlik ein paar Tage später. «Ich war drei Stunden auf dem Polizeiposten. Meistens lassen sie mich nach ein paar Minuten gehen. Einer hat mich einen ‹Parasiten› genannt. Er hat offenbar nicht verstanden, worum es mir geht.»
Das Gedankenexperiment
Es waren keine Drogen im Spiel. Es gab auch keinen Bruch und keine spirituelle Eingebung im Leben des polnischen Informatikers Pawel Josef Stanczyk. Elf Pavlik, wie er sich heute nennt, ist nicht über Nacht entstanden.
Noch vor fünf Jahren arbeitete Stanczyk im Grossraum San Francisco als Programmierer für eine IT-Firma, die massgeschneiderte Luxusreisen organisierte. Eine zunehmend unbefriedigende Arbeit. «Ich fragte mich, wem meine Fähigkeiten und meine Leidenschaft für Technologie eigentlich nützten. Ein paar wenigen, die sich ohnehin alles leisten konnten. Ich merkte, dass der Job nicht das war, was ich wirklich wollte.» Als er sich schliesslich weigerte, ein neues Tool zu entwickeln, mit dem KundInnen «gezielt mit Werbung zugemüllt» werden sollten, wurde ihm gekündigt. Das war keine Tragödie, sondern ein Befreiungsschlag.
Stanczyk beschloss, erst mal keine neue Stelle zu suchen, sondern sich von allem zu befreien, was zum Leben und Überleben nicht unbedingt nötig ist. Wochenlang übernachtete er auf Sofas von FreundInnen oder in den Parks von San Francisco. Mit seinem Ersparten bezahlte er das Allernötigste – Essen, Kleider, Hygieneartikel. Oft zog er mit den Obdachlosen San Franciscos umher und hörte sich ihre Lebensgeschichten an. «Ich ging mit ihnen zur Essensausgabe oder zur Notunterkunft und war schockiert, wie achtlos und herablassend man diesen Menschen dort begegnete. Es ging den Leuten gar nicht darum, die Obdachlosen zu unterstützen, es ging ihnen nur um ihren eigenen Lohn.»
Stanczyk begann sich auszumalen, wie es wäre, wenn niemand mehr Geld hätte. Mehrere Tage lang spielte er dieses Gedankenexperiment anhand konkreter Alltagssituationen durch und kam zum Schluss, dass die Welt dann eine bessere wäre – solidarischer und umweltfreundlicher. Er beschloss, Geld künftig strikt abzulehnen. In jenen Tagen ist Elf Pavlik entstanden, der geld- und papierlose Weltbürger.
Bioabfall, besetzte Häuser, Yoga
«Ich bin überrascht von Basel», sagt Pavlik. Er sitzt in der Capribar, unweit der französischen Grenze, die für ihn nicht existiert, und beugt sich über seinen Computer. «Es gibt hier einige selbstverwaltete, solidarische Gemeinschaftsprojekte, so wie dieses Lokal hier, wo ich Tee trinken darf und auf ein Sandwich eingeladen werde. Oder die besetzte Villa Rosenau, wo ich ein Dach über dem Kopf habe und mir ein Fahrrad leihen kann.»
Nach Basel ist er wegen des «Easterhegg» gekommen, des jährlichen Hackerfamilientreffens des Chaos Computer Clubs. Er hat dort einen Vortrag gehalten über sich und sein Ideal einer geldlosen Welt.
Ein geldloses Leben ist nicht nur möglich, es stellt Elf Pavlik auch zufrieden. Wenn er Hunger hat, geht Pavlik zuweilen «Lebensmittel retten», wie er es nennt. Das heisst, er sucht im Müll gezielt nach weggeworfenen Lebensmitteln, bevorzugt von Bioläden – Pavlik ist Veganer. Einen Schlafplatz findet er auch immer, sei es bei Freunden, über die Internetplattform Couchsurfing oder notfalls eben im Freien. Krankenversichert ist er übrigens nicht, er hält sich mit Yoga fit. Und dank Schengen/Dublin kann er sich zumindest in Europa frei und ohne grosse Komplikationen bewegen – er sieht unauffällig aus und wird selten kontrolliert.
Zum Missionar ist Elf Pavlik nicht geworden. «Was ich tun kann, ist, die Menschen um mich herum zu motivieren und zu unterstützen in dem, was sie machen wollen. Eine Veränderung muss ohnehin von innen heraus kommen. Aus dem Selbstbewusstsein.» Der Computer ist dabei sein wichtigstes Werkzeug: «Technologie kann vieles verbessern: die Kommunikation, die Vernetzung, den Zugang zum Wissen. Meistens steht sie allerdings im Dienst eines Konzerns, also des Geldes. Ich finde, Technologie sollte der Gemeinschaft dienen. Genau das versuche ich umzusetzen.» Nicht ohne Stolz wirft Pavlik, der im letzten Herbst die Occupy-Bewegung in Berlin technologisch unterstützt hat, einen Blick auf seine Agenda. Er ist bis September ausgebucht mit Projekten, Workshops und Veranstaltungen.
Einen Tag nachdem er in die BVB-Kontrolle geraten war, ging Pavlik zurück zum Polizeiposten und suchte den Beamten auf, der ihn als «Parasiten» bezeichnet hatte. Er wollte einerseits nachfragen, ob er wirklich nichts programmieren könne, und ihm andererseits nochmals seine Idee erklären. «Er kratzte sich bloss am Kopf und meinte dann, er habe keine Zeit für so was.»