«Gramsci zur Einführung»: Der surfende Alltagsverstand
In den vielfältigen Institutionen der Zivilgesellschaft entscheiden sich politische Kämpfe. Eine neue Einführung zu Antonio Gramsci zeigt die theoretischen Instrumente, mit denen sich dies analysieren lässt.
Die Hegemonie ist auch nicht mehr so hegemonial, wie sie einst war. In den achtziger und neunziger Jahren gab es kaum einen gesellschaftstheoretischen Einwurf, der sie nicht beschwor – von links wie von rechts. Hegemonie, das war die Vorherrschaft einer Klasse in einer Gesellschaft, die nicht durch Zwang, sondern durch konsensuale Zustimmung der anderen sozialen Schichten führt, die in vielfachen Institutionen hergestellt wird.
Für Linke eröffneten sich damit neue Erklärungen, weshalb nicht bloss die ökonomischen Bedingungen oder staatliche Zwangsapparate Herrschaft aufrechterhielten. Im Schweizer Beispiel: warum Werktätige oder MieterInnen immer wieder gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Und von rechts wollte man sich kundig machen, wie sich solche Mechanismen bewahren und verfeinern liessen.
Der Gemeinplatz wird mittlerweile nicht mehr ganz so häufig betreten. Zeit also, die Allmend wieder herzurichten.
Das moderne Konzept der Hegemonie stammt von Antonio Gramsci (1891–1937), Räterepublikaner in Turin, Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens, ab 1926 von Benito Mussolini in Haft gesetzt, an deren gesundheitlichen Folgen er mit 46 Jahren starb. Im Gefängnis versuchte er, an vielfältigem Material zu begreifen, warum der Faschismus gesiegt hatte und wie er bekämpft werden könnte. Seine Aufzeichnungen zu Lektüren, zu aktuellen Debatten, die er im Gefängnis mitbekam, auch Reflexionen über die eigene Geschichte füllen 29 dicht beschriebene Hefte. Die frühe Rezeption in Deutschland stützte sich auf wenige Auswahlsammlungen. Doch seit 2002 liegen die «Gefängnishefte» auf Deutsch vollständig in zehn Bänden vor.
Damit sich diese Materialsammlung in ihrer analytischen Kraft erschliesst, braucht es Anleitung. Die Einführung von Thomas Barfuss und Peter Jehle leistet dies glänzend. Sie ist nicht nur fundiert, sondern auch gut lesbar.
Zivilgesellschaft
Mehr noch als die Hegemonie hat die Zivilgesellschaft Karriere gemacht: jene vielfältigen Institutionen jenseits von Staat und Wirtschaft, in denen sich soziales Einverständnis herstellt. Dieser Ansatz hat Parallelen zu den Analysen der Kulturindustrie, wie sie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1947 in der «Dialektik der Aufklärung» begründeten, und zum folgenden Boom der Kulturwissenschaften. Der Marxist Gramsci begreift die Zivilgesellschaft freilich nicht als ein neutrales Terrain, sondern als einen Raum, in dem der Herrschaft eine Gegenhegemonie entgegengestellt werden soll. Gramsci, so werden Barfuss und Jehle nicht müde zu betonen, legt das Augenmerk darauf, dass sich die Menschen selbst bilden, sich aus ihrer Unmündigkeit, ihrer subalternen Position herausarbeiten. Am ehesten ist dieser kritische, aktivistische Gestus in den sogenannten Cultural Studies weiterentwickelt worden, repräsentiert etwa durch den Anfang 2014 verstorbenen jamaikanisch-britischen Soziologen Stuart Hall (siehe WOZ Nr. 8/2014 ).
Es gibt blitzhafte, unübertroffene Formulierungen von Gramsci: «Alle Menschen sind Intellektuelle, aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.» Heisst: Alle Menschen sind intellektuell tätig, noch in der monotonsten Handarbeit steckt Denkarbeit. Funktionale Intellektuelle hingegen arbeiten spezifisch daran, Gedanken, Symbole und Bilder zu kohärenten Weltbildern zusammenzufügen. Dabei knüpfen sie am Alltagsverstand an. Dieser ist ein Konglomerat vieler unterschiedlicher Elemente, persönlicher Erfahrungen, Motive herrschender ideologischer Weltanschauungen, enthält aber auch eine kritische Potenz, etwa eine Skepsis, die sich nichts vormachen lassen will, oder Vorstellungen sozialer Solidarität. Barfuss und Jehle vergleichen das mit dem Surfen im Netz.
Anwendung gesucht
So weit, so erhellend. Ein Problem besteht allerdings gerade in einer Stärke von Gramsci, nämlich seiner Arbeit am und mit dem konkreten Material. Er hat schon Ende der zwanziger Jahre geradezu prophetisch die neuen US-amerikanischen Formen des Wirtschaftens, den Fordismus und die Massenkultur vorausgesehen und scharfsichtig analysiert. Aber seither haben sich diese Phänomene weiterentwickelt und verändert. Von Gramsci zu lernen sind Fragestellungen, eine Herangehensweise, Instrumentarien. Mit einer Gramsciologie ist es jedoch nicht getan. Von Gramsci zu lernen, heisst, ihn heute auf konkrete Probleme anzuwenden und umzusetzen.
In der Selbstbefreiung, in der Erziehung zur Mündigkeit stösst man immer wieder auf die Enttäuschungen der geschichtlichen Realität. Gramsci, im faschistischen Gefängnis, hat dafür ein Motto geprägt: «Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens». Das mag wie ein Kalenderspruch klingen oder wie Pfeifen im dunklen Wald. Aber dieser Optimismus ist nicht einfach eine naive, hoffnungsfrohe Entscheidung, sondern kann nur dem genauen Bewusstsein der realen Schwierigkeiten entspringen. Was brauchbare Werkzeuge umso wichtiger macht.
Peter Jehle und Thomas Barfuss: Antonio Gramsci zur Einführung. Junius Verlag. Hamburg 2014. 192 Seiten. 20 Franken