Massenentlassung in Genf: Ganz schön dreist

Nr. 18 –

Vergangene Woche kündigte der deutsche Pharmakonzern Merck an, die Merck-Serono-Zentrale in Genf zu schliessen: 750 Stellen werden ab Mitte Jahr gestrichen, 500 Arbeitsplätze in die USA, Deutschland und China verlagert. 80 Angestellte an den Produktionsstandorten Aubonne, Corsier-sur-Vevey und Coinsins werden ihren Job ebenfalls verlieren. Der Abbau von 1330 Stellen ist eine Massenentlassung im gröberen Stil, eine Vernichtung von Arbeitsplätzen und Know-how, wie man sie in der Region am Genfersee noch nicht erlebt hat.

Die Überraschung war gross, die Empörung laut, die Meldung schien für Genfer PolitikerInnen so unbegreiflich wie das Wetter – entsprechend fielen die ersten Stellungnahmen aus: Die Rede war von einem «Tsunami» oder einem «Tornado», der über die Region hereingebrochen sei. Die Ankündigung der Massenentlassung war tatsächlich eines: ganz schön dreist.

Anfang März hatte die Merck-Gruppe die Jahreszahlen präsentiert: 2011 erwirtschaftete der Pharmariese mit Sitzen in Genf und Darmstadt erstmals einen Umsatz von über zehn Milliarden Euro. Der Gewinn im letzten Jahr betrug 1137 Millionen Euro. Ein «gutes Ergebnis in einem herausfordernden Umfeld», wie Karl-Ludwig Kley, CEO der Merck-Gruppe, erklärte. So gut, dass sich die Aktionärsversammlung am 20. April – nur vier Tage vor Ankündigung der Massenentlassung in Genf – eine Erhöhung der jährlichen Dividende um zwanzig Prozent gönnte.

Vielleicht hätte man bereits Böses ahnen können, als CEO Karl-Ludwig Kley Anfang März erklärte, dass man in den kommenden Jahren mit «zunehmendem Wettbewerbs- und Marktdruck» rechne und deshalb «ein Effizienzsteigerungsprogramm» gestartet habe, das «alle Ineffizienzen abstellen wird».

Aber warum hätte man das tun sollen? Der Milliardär und Alinghi-Segler Ernesto Bertarelli hatte Serono, die damals drittgrösste Biotechfirma der Welt, im Jahr 2007 für sechzehn Milliarden Franken an den deutschen Pharmamulti Merck verkauft. Die Merck-Gruppe verpflichtete sich dabei, den Standort Genf mindestens zehn Jahre lang zu erhalten. Im Gegenzug bot Genf Serono Steuererleichterungen in der Höhe von einer halben Million Franken jährlich, wie «Le Matin Dimanche» berichtet. Bis zur Schliessung der Genfer Serono-Zentrale Ende 2013 entgehen der Stadt so Steuergelder in der Höhe von 3,5 Millionen Franken. (Die Genfer Regierung kommentiert die Zahlen mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht.) Immerhin: Nach der Massenentlassung wird Merck-Serono der Stadt Genf das Geld wohl doch noch erstatten müssen.

Für die 1300 Angestellten, die ihren Job verlieren, ist das ein schwacher Trost. Sie sind Opfer einer Politik, die Standortattraktivität mit Minimalsteuersätzen verwechselt. Aber sie sind auch Opfer einer Wirtschaftslogik, die jede soziale Verantwortung missen lässt. Für die AktionärInnen der Profit, für die Beschäftigten der Schuh. Unter dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit wurden in den vergangenen dreissig Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik Unternehmenssteuern und Spitzensteuersätze für Vermögende gesenkt, während die arbeitende Bevölkerung immer wieder aufs Neue um ihre Renten und Löhne kämpfen muss. Das reichste Prozent der SchweizerInnen besitzt noch immer mehr als der Rest der Bevölkerung. Die Einkommensschere öffnet sich weiter, wie der Verteilungsbericht des Gewerkschaftsbunds letzte Woche eindrücklich zeigte.

Mehrere Zehntausend Menschen gingen am 1. Mai in der Schweiz auf die Strasse, um gegen diese sozialen Ungerechtigkeiten zu protestieren. In Genf sind die Serono-Angestellten daran, sich zu organisieren. Über 400 Personen erteilten letzten Freitag bei einer Betriebsversammlung der Gewerkschaft Unia den Auftrag, mit Merck-Serono zu verhandeln. Am 1. Mai in Genf bildeten 500 Serono-MitarbeiterInnen die Spitze eines Zugs von 3000 Menschen.

Die Hoffnungen auf eine Rettung sind nicht sehr gross. Aber ein wenig schielt man wohl doch ins benachbarte Nyon. Dort war es Anfang Jahr gelungen, die Schliessung eines Novartis-Werks zu verhindern und 320 Arbeitsplätze zu retten.