Merck Serono: «Wer nicht international kämpft, kämpft gegen Windräder»
Die Arbeitsplätze beim Pharmakonzern Merck Serono in Genf konnten nicht gerettet werden – und doch bleibt der Widerstand exemplarisch: Gewerkschaftssekretär Alessandro Pelizzari über die Auseinandersetzung mit einem Multi.
WOZ: Der Kampf um die Erhaltung der 1500 Arbeitsplätze bei Merck Serono ist am 9. August mit der Zustimmung zu einem Sozialplan zu Ende gegangen. War der Kampf ein Erfolg oder ein Misserfolg?
Alessandro Pelizzari: Sowohl als auch. Er ist ein Erfolg, wenn man bedenkt, wie schwierig die Ausgangslage war. Nämlich, dass es praktisch keine gesetzliche Handhabe bei Massenentlassungen gibt und dass es auch kaum gewerkschaftliche Hebel gibt, wenn ein Multi aus dem Ausland Konzernentscheide durchdrücken will. Die dritte Schwierigkeit war, dass es im Betrieb zu Beginn keine gewerkschaftliche Organisation gab. Dennoch entstand in wenigen Wochen eine Bewegung, die mit Stärke und Fantasie beeindruckte. Immerhin fünf Tage lang wurde bei Merck Serono gestreikt, und wir konnten eine arrogante Konzernleitung dreimal an den Verhandlungstisch zwingen. Ich würde es so sagen: Die Belegschaft hat den Kampf um ihre Würde gewonnen. Doch mit der Mobilisierung ist natürlich auch die Hoffnung gestiegen, man könnte die Arbeitsplätze retten. Diesen Kampf haben wir verloren.
Hätten die politischen Gremien mehr erreichen können, wenn sie nicht zuerst lange gezögert, sondern sich von Beginn an hinter die Belegschaft gestellt hätten?
Die Genfer Regierung hat der Konzerndirektion eine Zwangsschlichtung auferlegt, sie hatte jedoch keine Handhabe, Merck zur Ausarbeitung eines Sozialplans zu verpflichten. Doch selbst die Zwangsschlichtung wäre ohne unseren Kampf nicht möglich gewesen, und auch sonst sind Zweifel erlaubt, ob der Regierungsrat wirklich alle Druckmittel genutzt hat, die ihm zur Verfügung stehen. Ich denke insbesondere an die Frage der Steuererleichterungen. Doch die Sache ist noch nicht zu Ende: Es geht nun um die Gründung eines öffentlich-privaten Biotechinstituts, mit dem mehrere Hundert Arbeitsplätze gerettet werden können. Die Belegschaft erwartet, dass die Regierung wenigstens hier den ihr zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum voll ausnutzt.
Und die Gewerkschaft, hätte sie etwas anders machen können?
Kaum. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir als Gewerkschaft nicht im Namen der Belegschaft verhandeln, sondern gemeinsam mit der Belegschaft handeln. Es ist die Personalvertretung, die den grössten Teil der Mobilisierung zustande gebracht hat, wir als Gewerkschaft haben vor allem organisatorisches Know-how eingebracht. Natürlich könnte man fragen: Hätte man radikaler sein müssen? Dann wäre der Kampf aber zur Sache einer Minderheit geworden, und das war nicht der Wille der Belegschaft. Die Frage nach radikaleren Aktionen ist in einer solchen Situation auch ziemlich theoretisch. Wenn ein Betrieb geschlossen werden soll und die wichtigsten Projekte bereits nach Darmstadt verlegt sind, kann auch mit mehrtägigen Streiks wenig ökonomischer Druck ausgeübt werden. Der gewerkschaftliche Kampf an einem einzigen Standort wird damit zum Kampf gegen Windräder.
Welche Lehren können Sie aus dieser Geschichte ziehen?
Die erste Lektion ist: Entscheide eines internationalen Konzerns können nur international wirklich erfolgreich bekämpft werden. Wir hätten offensiver auf die deutsche Gewerkschaft zugehen müssen. Deren Lust, uns zu unterstützen, war, gelinde gesagt, sehr klein, in Darmstadt war der Druck auf die Direktion nahe bei null. Die zweite Lektion: Wir hätten uns die grosse Solidarität der Bevölkerung viel früher in Form eines Unterstützungskomitees zunutze machen sollen. Aber sonst muss ich sagen, dass wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Es wird von nun an ein Vorher und ein Nachher geben – vor und nach diesem exemplarischen Kampf! Wir haben seither mehrfach Anrufe erhalten von sogenannten White Collars, also höheren Angestellten, die Entlassungen fürchten. Belegschaften fragen um Rat in Betrieben, die bisher als gewerkschaftliche Wüste galten.
Der Fall Merck Serono hat gezeigt, dass es keine gesetzlichen Hebel gibt, Massenentlassungen zu vermeiden. Also muss der Schutz vor Massenentlassungen verstärkt werden über eine Revision des Obligationenrechts. Das ist der Inhalt eines Appells, den die Leute von Merck Serono lancieren wollen.
Können Sie schon mehr dazu sagen?
Wir sind erst in der Brainstormingphase. Es geht um eine Verbesserung des Mitwirkungsgesetzes, um mehr Rechte und mehr Schutz für die Personalvertretung. Die Rechte und Pflichten sollen weiter im Konsultationsverfahren verankert werden, damit die Personalvertretung nicht nur angehört wird, sondern effektiv mitreden kann. Es geht drittens darum, den Einfluss und die Eingriffsmöglichkeiten des Staats bei Massenentlassungen zu verstärken. Der radikalste Punkt ist, sogenannte Börsenentlassungen, also Entlassungen, die nur auf Profitsteigerung angelegt sind, schlicht zu verbieten.
Wann wird der Appell lanciert?
Am 22. September findet in Bern eine landesweite Demonstration für einen starken Industrie- und Werkplatz Schweiz statt. Bei dieser Gelegenheit wollen wir unseren Appell lancieren. Die Belegschaft von Merck Serono hat vor, mit dem Appell auf dem Velo nach Strassburg zu fahren, zum Sitz des Europaparlaments.