Porträt Hubert Godinot: «Als schnitten sie uns einen Arm ab»

Nr. 23 –

Hubert Godinot ist Direktor – und Personalvertreter. In einer Person. Er wehrt sich zusammen mit seinen Angestellten gegen die Schliessung des Biotechunternehmens Merck Serono in Genf.

Hubert Godinot vor dem Serono-Firmensitz in Genf: «Merck hat uns immer wieder die grossen Werte des Unternehmens unter die Nase gerieben – und jetzt kommt das!»

Eigentlich ist Hubert Godinot nicht Naturwissenschaftler, sondern Soziologe. Doch seinen zweijährigen Zivildienst leistete der französische Militärdienstverweigerer in einem Spital in Lyon, wo er als Assistent in der klinischen Forschung arbeitete. Von dort kam der Sprung zum Biotechunternehmen Serono.

Heute arbeitet Godinot als Direktor und Leiter einer Steuerungsgruppe für klinische Entwicklungen bei Merck Serono in Genf. Er gehört damit zum mittleren Management der Firma. Dennoch ist er, kurz nach der Ankündigung, dass der deutsche Chemieriese Merck den Genfer Biotechzweig Serono schliessen wolle, zum Personalvertreter gewählt worden.

«Ich bin überzeugt, dass Merck zu Beginn einen Zusammenschluss im Interesse beider Firmen anstrebte», meint Godinot. Doch die «Dampfwalze aus Darmstadt» habe Initiativen aus Genf erstickt, die Maschine habe sich festgefahren, immer mehr verschiedene Entscheidungsebenen seien übereinandergeschichtet worden. «Wir waren im Management alle der Ansicht, dass eine Neuorientierung notwendig sei, doch dann kam Ende April der Keulenschlag: Schliessung des Genfer Betriebs und Entlassung der grossen Mehrheit aller Angestellten!»

Der Entscheid habe Empörung und Unverständnis ausgelöst, nur wenige seien bereit, sich verlagern zu lassen: «Wir sind eine sehr internationale Belegschaft und brauchen die internationale Atmosphäre von Genf.» Viele hätten das Gefühl, Opfer einer Ungerechtigkeit zu werden: «Merck hat uns immer wieder unter die Nase gerieben, die grossen Werte des Unternehmens seien Respekt und soziale Verantwortung, und jetzt kommt das!» Ungerecht sei auch, dass Merck am Konzernsitz in Darmstadt eine kleine, flexible und dynamische Forschungseinheit im «Biotech-Geist» schaffen wolle, genau das, was Serono in Genf eben sei. «Wir fühlen uns durch diesen Entscheid in unserer beruflichen Ehre getroffen.»

All diese Enttäuschungen haben in den vergangenen Wochen zu einer Mobilisierung des Personals geführt, die ihresgleichen sucht. «Für mehr als achtzig Prozent der Angestellten wäre es noch vor ein paar Wochen vollständig undenkbar gewesen, an einer Demonstration teilzunehmen», so Godinot. Seither übt man sich im Einmaleins gewerkschaftlicher Aktionen: Wahl einer Personalvertretung, Demonstrationen, Petitionen, Piketts, Streikdrohungen, Entsendung einer Delegation nach Darmstadt … «Wenn die Gewerkschaft Unia auf Kundenfang gegangen wäre oder mit Slogans wie ‹Nieder mit den Patrons!› und Ähnlichem aufgetreten wäre, wäre das schiefgegangen.» Doch die gemeinsam entworfene Strategie, zunächst eine verlängerte Konsultationsfrist durchzusetzen und anschliessend in Arbeitsgruppen Alternativen zur Schliessung zu beraten, habe überzeugt. «Eins ist sicher: Die Leute haben ihre Ansichten über Gewerkschaften radikal geändert.»

Diese Alternativvorschläge liegen seit letztem Montag auf dem Tisch (vgl. Kurzartikel «Cluster oder Streik?» unten links auf dieser Seite). Godinot hat den Eindruck, dass es noch einigen Druck aus der Politik und von den Angestellten braucht, um Merck umzustimmen. «Gemeinsam sind wir stark!, dieses Gefühl ist neu und noch immer am Wachsen.» Was aber, wenn Merck alle Vorschläge ablehnt? «Dann sind wir bereit, weiter zu gehen als nur bis zu einer einstündigen Arbeitsniederlegung», sagt Godinot ernst. «Die meisten von uns haben nichts mehr zu verlieren.»

Erhält Godinot Unterstützung von seinen KollegInnen aus dem mittleren Management? «Ja, denn wir alle haben das Gefühl, als schnitten sie uns einen Arm ab.» Auch viele seiner KollegInnen verstünden nicht, weshalb eine funktionierende Struktur geschlossen und anderswo neu aufgebaut werden solle mit dem Risiko, die besten Köpfe und Projekte zu verlieren. Merck sei bereits in Verhandlungen mit andern Unternehmen, die an gewissen Projekten interessiert seien: «Das kommt mir ein bisschen wie auf dem Viehmarkt vor!»

Seine eigene Zukunft beunruhigt den 45-jährigen Grenzgänger aus Frankreich weniger: «Ich hatte schon länger den Eindruck, nicht mehr genau zu verstehen, was im Betrieb abläuft.» Er sei deshalb schon fast auf dem Absprung gewesen, doch als es dann mit dem Widerstand im Betrieb losgegangen sei, habe er nicht kneifen können. Das liegt bei ihm in der Familie. Godinots Vater war Berufsoffizier, seine Mutter wurde in einem humanitären Konvoi in Sarajevo von einem Heckenschützen erschossen, und sein Grossvater starb als Mitglied der französischen Résistance.

Seine Zeit als Antimilitarist und Dienstverweigerer liege zwar schon weit zurück, sagt Godinot, «aber Ungerechtigkeit macht mich noch immer wütend».

Merck Serono : Cluster oder Streik?

Gegen 800 Mitarbeitende bei Merck Serono in Genf haben am letzten Dienstag ihre Arbeit niedergelegt. Sie protestierten mit diesem einstündigen Warnstreik gegen die Schliessung des Betriebs und die geplante Massenentlassung von 1500 Menschen. Sie fordern Verhandlungen mit der Direktion über ein Paket von Vorschlägen, die sie in den letzten Wochen erarbeitet haben. Ihr Ziel: die Existenz eines Biotech-Kompetenzzentrums in der Region weiter zu sichern. Die Angestellten sind zu Lohnkonzessionen bereit, falls Merck auf die Schliessung verzichtet.

Ein zweiter Vorschlag zielt darauf ab, so viele Arbeitsplätze wie möglich in Genf zu retten und nur die zentralen Funktionen nach Darmstadt zu verlagern. Ein drittes Massnahmenpaket betrifft den Aufbau eines Biotech-Clusters: Merck müsste die Gründung von Start-ups durch bisherige Merck-Serono-Mitarbeitende finanzieren sowie den Forschenden Infrastrukturen und Patente abtreten. Diese würden mit Merck, aber auch mit andern privaten Betrieben und mit den Spitälern und Universitäten der Region zusammenarbeiten.

Das Thema Cluster steht auch auf der Traktandenliste der sogenannten Taskforce, bestehend aus Direktion und Angestelltenvertretung von Merck Serono, Genfer Regierung, VertreterInnen von Universitäten und Spitälern sowie Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Die Gewerkschaft Unia kritisiert die Genfer Kantonsregierung, die es Anfang der Woche noch nicht geschafft hatte, die Merck-Direktion zur Teilnahme zu verpflichten. Nach dem Warnstreik vom Dienstag erwarten die Angestellten nun, dass die Direktion ihre Vorschläge ernst nimmt und noch diese Woche mit ihnen ins Gespräch kommt. Am Samstag ist eine Grossdemonstration geplant. Falls Merck weiterhin ablehnend reagiert, entscheidet am Montag darauf eine Personalversammlung über einen eintägigen Streik am 12. Juni 2012.