Taktlos : Lieder aus dem anderen Songbook
Spannende Songs zwischen Komposition und Improvisation stellen vier Gruppen am 29. Taktlos-Festival in Zürich vor. Auch die anderen vier beteiligten Bands pflegen eine unverkrampfte Beziehung zur Tradition.
Zwischen der musikalischen Konvention, die uns mit Vertrautem bedient, und dem Unkonventionellen, durch das alles auf den Kopf gestellt wird, besteht eine Kluft, scheinbar grösser, als Himmel und Erde auseinander sind. Lange war deshalb in einer experimentellen, einer frei improvisierten Musik so etwas wie ein Song kaum denkbar: Jeder Ansatz von Melodie wäre sofort im Keim dekonstruiert worden; das Great American Songbook hatte hier ausgedient.
Dennoch gab es auch hier immer wieder Versuche des ästhetischen Ungehorsams. Es entstanden schräge Lieder, ohne den Charme der Evergreens, ohne ihre leichte Erkennbarkeit, getragen von der obsessiven Sucht, sich dennoch liedartig zu artikulieren, in absurden bis boshaften Texten, begleitet zuweilen von Instrumenten, die scheinbar alles andere als begleiten wollten. Und das war gerade auch ein bisschen taktlos.
Luftreiche Klarinettentöne
Ausgereizt ist dieses Gebiet noch keineswegs, wie nun die neuste Ausgabe des Taktlos-Festivals in Zürich zeigen dürfte. Das dreitägige Festival «im Grenzbereich zwischen Jazz, freier und improvisierter Musik, Independent Pop, Musique concrète und aufregenden Songs» (so die Selbstankündigung auf der Website) macht vor allem seinen Sonntag zum «Songtag».
Neben vier rein instrumentalen Formationen fokussieren vier Bands auf Lieder. Was sich in diesem Bereich an neuen Möglichkeiten anbietet, zeigt zum Beispiel auf irritierende Weise das seit 2005 bestehende deutsch-österreichische Experimentalquartett The Magic I.D. Gleich zu Beginn der CD «I’m So Awake / Sleepless I Feel» hört man eine Gitarre mit einer fast «normalen» Begleitung, in die sich aber gleichsam schräg von der Seite her lange luftreiche Klarinettentöne mischen.
Bald setzen die beiden Vokalstimmen mit dem Song «Atmospheres of a Beginning» ein. Das könnte nun ganz regelmässig dahinschreiten, tut es aber nicht, denn so parallel die beiden Stimmen beginnen, so sehr verschieben sie sich doch immer wieder, driften sanft auseinander und finden einander wieder, während die Klarinettentöne geheimnisvoll changieren. Margareth Kammerer (vocals/guitars), Christof Kurzmann (vocals und loops) sowie die Klarinettisten Kai Fagaschinski und Michael Thieke zeigen da eine Möglichkeit neuartigen Singens. Ihre stilistische Bandbreite ist allerdings noch viel grösser; sie spielen bewusst auf hintergründige Weise mit den Genres.
Die «new songs» der in Äthiopien geborenen, schwedischen Vokalistin Sofia Jernberg kommen deutlicher von der frei improvisierten Musik her. Die zeitlupenhafte Melodielinie des Songs «Puff» zum Beispiel wird von gleissenden Klängen und unruhigen und geradezu wackligen Pulsflächen untermalt. Das Instrumentarium ist ungewöhnlich. Der Norweger Kim Myhr spielt Gitarre, Barockgitarre und Zither, der Schwede David Stackenäs präpariert seine Gitarre ebenso wie die Französin Eve Risser ihr Klavier. Die Klänge und Geräusche werden eher hingetupft. So entstehen luftige, kaum bodenhaftende Lieder, hell im Charakter oft, was der Stimme Jernbergs entgegenkommt. Zuweilen verlieren sich ihre Koloraturen im Irgendwo. Das erzeugt eine Stimmung, die zuweilen ins Traumhafte abhebt. «Reality Had a Little Weight» heisst bezeichnenderweise ein Song.
Das klingt alles recht atmosphärisch, der Taktlos-Sonntag hebt ab. Bloss sollte man darüber nicht vergessen, dass es auch anders geht, und das zeigen die Abende zuvor. Erdiger und äusserst trittfest gibt sich die Gruppe Phall Fatale, was allein schon an den Drums von Fredy Studer liegt. Der Luzerner Schlagzeuger, einst Mitglied der legendären Schweizer Jazzrockformation OM, legt ein geradliniges Fundament, das den Songs ein besonderes Gepräge verleiht. Die aus Ghana überlieferte Erzählung vom Little Boy, der seine Mutter verloren hat und auf die Reise geht, zu finden auf der CD «Charcoal from Fire», ist ein grooviges Perpetuum mobile, untergründig angetrieben, beunruhigend, und es entwirft eine ganze andere Art von Song. Mit von der Partie sind die Vokalistin Joy Frempong, Joana Aderi (vocals und electronics) sowie die beiden Kontrabassisten Daniel Sailer und John Edwards.
Rückkehr nach Zürich
Recht düster kommt schliesslich Evangelista daher, die Band der in Los Angeles lebenden Vokalistin Carla Bozulich. Von ferne gemahnt das an die frühe Patti Smith, und mit dem ersten Song, «Artificial Lamb», aus der letzten CD, «In Animal Tongue», fühlt man sich auch heftig an Rock erinnert, aber von Track zu Track wird die Tonsprache aufgerauter und experimenteller. Fremdartige Elemente mischen sich darunter, untermalen geräuschhaft und auf unheimliche Weise die dunkle Stimme. Zusammen mit dem Bratschisten John Hinterseer (er ist auch Informatiker und hat Software für Björk, Brian Eno und Laurie Anderson entwickelt) bietet Bozulich in Zürich eine eingedampfte, hoch konzentrierte Version von Evangelista.
Im Übrigen ist Taktlos Zürich 2012 für die Vokalistin auch ein bisschen eine Rückkehr, schliesslich hiess ihre allererste, an Dada gemahnende LP von 1984 «Zurich 1916».
Taktlos in: Zürich, Rote Fabrik, Freitag bis Sonntag, 11. bis 13. Mai 2012, jeweils 20 Uhr. www.taktlos.com, www.rotefabrik.ch