Lee Ranaldo: «In Zürich spielten wir coole Gigs»
Der New Yorker Gitarrist Lee Ranaldo knüpft mit seinem neuen Projekt The Dust an seine legendäre Gruppe Sonic Youth an. Reflexionen über experimentelle Musik, die Kunst des Songwriting, Malerei und den Auftritt beim 30. Taktlos-Festival in Zürich.
WOZ: Lee Ranaldo, Sie sind als Mitglied der Indierockgruppe Sonic Youth bekannt. Jetzt treten Sie am Taktlos-Festival in Zürich auf – einem Festival für experimentelle Klänge. Was verbindet Sie mit dieser Szene?
Lee Ranaldo: Die meisten Leute kennen mich als Gitarristen von Sonic Youth, obwohl ich auch immer schon experimentelle Musik gemacht habe. Ich spiele kontinuierlich freie Improvisationen mit den verschiedensten Leuten, ob mit dem Schlagzeuger William Hooker oder dem schwedischen Saxofonisten Mats Gustafsson. Im Jahr 2000 war ich bereits einmal beim Taktlos-Festival zu Gast, damals mit dem Dudelsackspieler David Watson und dem Schweizer Schlagzeuger und Elektroniker Günter Müller – das war ein hochexperimentelles Konzert!
Dieser Stil ist mir also alles andere als fremd. David Watson kommt aus Neuseeland und lebt ebenfalls in New York. Wir spielen bis heute zusammen. Letztes Jahr haben wir ein Album mit dem Titel «Glacial» veröffentlicht, bei dem noch der australische Drummer Tony Buck mitwirkte. Zum Taktlos werde ich aber dieses Mal mit meiner neuen Rockgruppe The Dust anreisen.
Wie verlief Ihre musikalische Entwicklung? Sind Sie von der experimentellen Musik zum Rock gekommen?
Nein, es war genau umgekehrt. Ich fing in meiner Jugend mit Rock ’n’ Roll an, spielte in unzähligen Pop- und Rockbands. Erst später entdeckte ich die experimentelle Musik, was ganz organisch verlief. Ich tauchte dann tiefer und tiefer in dieses Genre ein. Ich folgte zuerst nur den Spuren, die Rockmusiker hinterliessen. Auf dem Cover von «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band», dem bahnbrechenden Album der Beatles, war unter anderem Karlheinz Stockhausen zu sehen. Wer ist dieser Typ?, dachte ich und folgte der Fährte. So entdeckte ich die avantgardistische neue Konzertmusik.
Als ich dann 1979 nach New York kam, war das wie eine Explosion. Überall wurde an Neuem gebastelt. John Cage war aktiv, ebenso die Minimalisten Philip Glass und Steve Reich. Es gab die Gitarrenorchester von Glenn Branca und Rhys Chatham und die Drones von La Monte Young. Die Musiker der Downtown-Clique um John Zorn (siehe WOZ Nr. 21/13) bastelte an neuen Konzepten. Selbst die Rockszene war damals in New York äusserst experimentell veranlagt. Die No-Wave-Gruppen dekonstruierten den Rock ’n’ Roll. Ich kam von der Kunsthochschule und hatte dort Kunstbewegungen wie Fluxus, Dada oder Surrealismus studiert, die sich die Dekonstruktion der Kunst zur Aufgabe gemacht hatten. Das passte mit diesen neuen Tendenzen wunderbar zusammen. Ich spielte aber auch in Glenn Brancas frühem Gitarrenorchester – aufregende Jahre!
Die Musikszene von Downtown Manhattan scheint Ende der siebziger Jahre ein einziges riesiges Experimentierlabor gewesen zu sein. Haben Sie das auch so erlebt?
Sicher! New York war schon immer ein Zentrum kreativer Energie, und die Downtown-Szene von Manhattan befand sich damals in einer äusserst fruchtbaren Phase. Überall passierten die fantastischsten und verrücktesten Dinge. Musiker kombinierten die unterschiedlichsten Stile auf völlig neue Weise. Die Energie der Punkrevolution war eine entscheidende Kraft. Es gab Clubs wie das CBGB oder Max’s Kansas City und auch kleinere Auftrittsorte und Lofts. Dort ging die Post ab. Man konnte Teenage Jesus and The Jerks hören oder Suicide oder die Contortions. Lydia Lunch spielte bei Teenage Jesus die E-Gitarre mit Messern, und James Chance blies auf dem Saxofon wie Albert Ayler. Die Band brachte Punk und Freejazz zusammen. Eine andere interessante Gruppe war Suicide, die die Elektronik auf revolutionäre Weise nutzte. Es war eine hochinteressante Zeit – inspirierend!
Sie haben vergangenes Jahr das Soloalbum «Between the Times and the Tides» veröffentlicht – auf einem Aufkleber steht, es sei Lee Ranaldos erstes Rockalbum …
Ich weiss, das ist lustig. Auf der anderen Seite ist es nicht ganz falsch, weil ich bis dahin kein volles Soloalbum mit Rocksongs veröffentlicht hatte. Als Sonic Youth vor ein paar Jahren eine Pause einlegte, fing ich an, diese Lieder zu schreiben. Das Label brachte den Aufkleber an, damit die Leute nicht meinen, es sei eine weitere meiner experimentellen Veröffentlichungen. Es sollte klar sein: Hier handelt es sich um Songs und Rockmusik.
Ich arbeite bereits an der nächsten Veröffentlichung, die diese Entwicklung fortführt. Sie wird neue Songs enthalten. Darum dreht sich momentan mein Interesse: Ich arbeite intensiv an neuen Liedern, singe viel und beschäftige mich generell mit dem Songformat. Das Album wurde im Kern von der gleichen Band eingespielt, die nach Zürich kommen wird. Alan Licht spielt Gitarre, Tim Luntzel E-Bass, und Steve Shelley von Sonic Youth sitzt am Schlagzeug. Ich wollte für mich und meine Songs eine feste Band haben, nicht nur einen losen Verbund von Musikern.
Sie waren nie nur Rockmusiker, sondern haben unter anderem auch Gedichte geschrieben. Hat das neue Interesse am Songwriting damit zu tun?
Vielleicht. Ich schreibe weiterhin Gedichte. Ende des Jahres wird ein Buch mit Poesie und Texten von mir erscheinen. Ein Interesse an Wörtern kann nicht schaden, wenn man Songtexte schreibt. Ich bin mir aber bewusst, dass Songtexte und Lyrik zwei unterschiedliche Disziplinen sind. Liedtexte funktionieren anders als Poesie. Gedichte werden für die Buchseite geschrieben, können still gelesen oder laut rezitiert werden, sind also vom Wesen her etwas anderes als Songs.
Ursprünglich kommen Sie aus der bildenden Kunst her.
Das ist richtig. Musik und Poesie sind nur ein Teil meines kreativen Schaffens. Ich habe ursprünglich Malerei und Kunstdruck studiert. Im Moment findet gerade eine Ausstellung meiner Gemälde in Portugal statt. Die Bilderserie heisst «Highway Drawing» und ist auf dem Beifahrersitz unseres Tourbuses entstanden.
Ich habe in der Vergangenheit auch viel mit Film gearbeitet. Mit meiner Frau Leah Singer absolviere ich Auftritte, die Musik, Film und Elemente von Performancekunst verbinden. Filme und Zeichnungen mache ich beinahe schon länger als Musik. Ich begreife mich als Künstler, der mit verschiedenen Medien arbeitet. Im Bereich der Musik bin ich nur am bekanntesten, obwohl ich immer schon in mehreren Kunstsparten tätig war.
Das Taktlos-Festival findet in der Roten Fabrik in Zürich statt. Verbinden Sie mit dem Ort bestimmte Erinnerungen?
Zur Roten Fabrik habe ich eine ganz spezielle Beziehung, die weit zurückreicht. Als wir Anfang der achtziger Jahre mit Sonic Youth die ersten paar Male nach Europa kamen, hatten wir einen Touragenten aus Zürich. Deshalb begannen hier oft unsere Tourneen. Die Rote Fabrik war einer der ersten Orte in Europa, wo Sonic Youth auftrat und mit denen wir mit der Zeit vertraut wurden. Heute ist es einer der wenigen Auftrittsorte aus dieser Zeit, die noch bestehen. Wir haben dort über die Jahre einige sehr coole Gigs gespielt und eine gewisse emotionale Beziehung zu diesem Ort entwickelt. Er ist Teil unserer Geschichte.
Haben Sie besondere Erwartungen an Ihren Auftritt am Taktlos?
Wir sind gerade dabei, ein neues Album fertigzustellen, und werden deshalb einige Songs der vorigen Platte und einige neue Songs präsentieren. Ich bin gern in Zürich. Wenn ich Zeit habe, gehe ich ins Kunsthaus, wo ich schon öfter war. Wann immer ich kann, besuche ich Museen und Kunstgalerien, wenn ich auf Tour bin. Ich habe eine lange Liste von interessanten Orten, wo Kunst zu sehen ist. Sie wächst ständig, und ich arbeite sie kontinuierlich ab.
Lee Ranaldo: «Between the Times and the Tides». Matador Records.
Lee Ranaldo and The Dust spielen am Sonntag, 16. Juni 2013, im Rahmen des Taktlos-Festivals in der Roten Fabrik. www.rotefabrik.ch, www.taktlos.com
Taktlos-Festival – die 30. Edition: Enorme Vielfalt, poröse Genregrenzen
Ein dunkles Dröhnen hallte durch den Raum, gewitterartig entlud sich elektrischer Gitarrenlärm, während ein Saxofon schrill aufkreischte. 1986 zog Elliott Sharp alle Register. Mit seiner Formation Carbon trat der New Yorker Underground-Gitarrist beim 3. Taktlos-Festival auf, das Klänge aus den Randzonen der Stile zusammenbrachte: radikale Geräuschtöner, Improvisatorinnen und Elektroniker.
1984 hatte die Konzertinitiative Fabrikjazz in der Zürcher Roten Fabrik mit Impro-Bern das Festival aus der Taufe gehoben. Achtzehn MusikerInnen waren damals zu einem Treffen der spontanen Improvisation angereist. In den folgenden Jahren klinkte sich Basel ein. Die MusikerInnen traten im Rotationsverfahren in allen drei Städten auf. Das Taktlos war von Anfang an international ausgerichtet. Bands und MusikerInnen aus den USA, Kanada und Japan nahmen teil, auch aus Grossbritannien, den Niederlanden, Frankreich, West- und Ostdeutschland. Gleichzeitig kam die Creme der Schweizer Experimentalszene zum Zug, von Irène Schweizer über Fredy Studer und Stephan Wittwer bis zu den Noise-Rockern von Alboth!. Innerhalb von ein paar Jahren hatte sich das Festival durch sein eigenständiges Profil und sein kompromissloses Programm auch international einen exzellenten Ruf erworben.
Ende der neunziger Jahre zerbröselte die Einheit. Die Berner Initiative ging bis 2002 eigene Wege, 2004 warfen auch die Basler das Handtuch. Einzig Fabrikjazz in Zürich hält die Taktlos-Fahne hoch – dieses Jahr zwischen dem 14. und dem 16. Juni 2013.
Die Vielfalt ist enorm. Am Freitag ist Joy Frempong mit «Kokokyinaka» zu Gast, und der Auftritt des Rémi Panossian Trio gibt einen Einblick in die moderne Jazzszene Frankreichs. Das Klaviertrio aus Paris, verstärkt durch die Saxofonistin Nicole Johänntgen und den Trompeter Frederik Köster, steht für einen jungen Jazz, der die Grooves der elektronischen Clubmusik akustisch verarbeitet und sie mit progressivem Rock und minimalistischen Loops mixt. Am Samstag werden die Genregrenzen noch poröser. Der finnische Pianist Iiro Rantala zollt seinen Helden Tribut, und die Kelvin Sholar Group aus Detroit verbindet Jazzimprovisation, klassische Musik und Detroit-Techno mit den Bewegungen der Butoh-Tänzerin Makiko Tominaga.
Ausflüge in Post-Jazz und Indie-Rock verspricht der Sonntag. Hier trifft der Furor der Schweizer Formation Superterz um das Brüderpaar Marcel und Ravi Vaid auf die elektronisch verfremdeten Trompetenstösse des Norwegers Nils Petter Molvaer. Anschliessend setzt Lee Ranaldo den Schlussakkord.