WOZ Literatur 2012: Auf offener Strasse – Kreidespuren der Poesie

Nr. 19 –

Mascha Kaléko: «Mein schönstes Gedicht»; ausgewählt von Adrian Riklin, gesendet und fotografisch inszeniert von Ursula Häne. Aus: Mascha Kaléko: «In meinen Träumen läutet es Sturm». dtv. München 2007.

«Im Frühjahr 1998 kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte Ausgabe der ‹Gedichte› von Emily Dickinson und wurde an der ersten Strassenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angelangt war, von einem Auto überfahren.»

So lautet der erste Satz im Roman «Das Papierhaus» von Carlos María Domínguez. Eine Umfrage bei Verkehrsämtern in der Schweiz hat nun aber ergeben, dass der Konsum von Gedichten in Strassenverkehrsstatistiken der vergangenen Jahre keine Rolle gespielt hat. Einerseits ist das natürlich erfreulich. Andererseits ein wenig bedenklich: Die Statistik lässt vermuten, dass die Lyrik in diesen Zeiten und Breitengraden ein eher marginales Dasein fristet.

Warum eigentlich? Johanna Lier, selbst Lyrikerin, begab sich auf interkontinentale Spurensuche – und kommt mit der Erkenntnis zurück, dass es gerade das Gedicht sei, das (wie die argentinische Dichterin Olga Orozco einmal schrieb) «verborgene Bezirke und unaussprechliche Wünsche» erforscht. Und manchmal hat ein Gedicht sogar den Anspruch, in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzuwirken, 
Massen zu bewegen oder gar Machthaber zu stürzen, wie Roland Merk in seinem Beitrag zur Lyrik im arabischen Sprachraum festhält.

Ja, das Gedicht, so still und leise es zuweilen auch daherkommt, kann hochpolitisch sein. Gerade in der Dialektik zwischen dem Leisen (das vom Schweigen bis zum Flüstern reicht) und seiner Lautwerdung liegt sein subversives Potenzial. Beispiele dafür gibt es nicht zuletzt aus dem lateinamerikanischen Sprachraum, wo das Gedicht bis heute eine wesentlich grössere gesellschaftliche Bedeutung hat. Davon auch 
in deutscher Sprache mehr zu erfahren, wäre schön – doch bräuchte es 
dazu eine kongeniale Übersetzungskultur, wie Valentin Schönherr erläutert.

Im Hinblick auf die 34. Solothurner Literaturtage vom 18. bis 20. Mai 2012, in deren Rahmen Lyrik aus verschiedenen Kontinenten erfreulich viel Platz einnehmen wird, wollen wir eine Lanze für das Gedicht brechen. Ursula Häne und Andreas Bodmer haben sich die von unseren GastautorInnen ausgewählten Gedichte zu Herzen genommen, sie in verschiedene Umgebungen hineingestickt, -projiziert, -gekritzelt, 
 -gesendet, -getippt, -gestanzt, -geklebt und -geschrieben – und fotografisch inszeniert. Denn manchmal sind Gedichte nicht nur kurz, sondern dauern auch kurz – tauchen auf und verschwinden gleich wieder.

So ist es dem wunderschönen Gedicht «Stehe ich» der dänischen Dichterin Inger Christensen ergangen, das Andreas Bodmer mit hellblauer Kreide auf der Hardturmstrasse im Zürcher Kreis 5 verewigen wollte. Schon am nächsten Morgen war es spurlos verschwunden. 
Als wäre nichts geschehen. Gut, dass es bei all der Bereinigung wenigstens auf unserem Titelblatt überlebt hat. Ist am Ende ein Gedicht auf offener Strasse doch zu gefährlich?

Texte der Literaturbeilage