Ingrid Fichtner: Die Welt in einem Tropfen Tau

Nr. 19 –

Mit «Lichte Landschaft» ist unlängst ihr neuster Gedichtband erschienen. Ein Werkstattgespräch mit der Lyrikerin Ingrid Fichtner über unhörbare Farben, kleine Unterschiede und minimale Verschiebungen.

Ingrid Fichtner: «August»; ausgewählt von Ulrike Ulrich, gekritzelt und fotografisch inszeniert von Andreas Bodmer. Aus: Ingrid Fichtner: «Lichte Landschaft». Wolfbach Verlag. Zürich 2012.

WOZ: Eines Ihrer Gedichte aus «Lichte Landschaft» beginnt mit der Zeile «Maler Sänger Dichter». Mir scheint, als gelänge Ihnen das alles gleichzeitig mit Ihrer Lyrik: malen, singen und dichten. An ein expressionistisches Gemälde erinnert mich «Aufgang»: «blau steht der Baum / der Zaun steht violett». Andere Gedichte wirken auf mich wie Gesang. Farben und Klänge sind allgegenwärtig. Auch in Bezug zueinander, wenn es heisst, dass die Farben unhörbar sind …
Ingrid Fichtner: Farben sind ein Thema, das mich nicht loslässt, das immer da ist, das sich in all mein Schreiben drängt, so als müssten die Farben einfach vorkommen. Aber ich mag auch die Linie, die kann man über ein leeres, weisses Blatt oder auch mit dem Finger über einen Körper ziehen. Farbe führt mich in Richtung Klangfarbe der Wörter, Klangmalerei. Für mich sind zuerst die Wörter da – die Materialität von Sprache, der Klang, der Rhythmus der Wörter stehen im Vordergrund. Vielleicht liegt da das Singen drin, von dem Sie sprechen. Ein Gedicht ist genauso sehr Klangereignis im Ohr der Leserin wie es in deren Auge ein Bild auslösen kann. Wobei man vielleicht nicht nur von einem einzigen Bild reden sollte, es können sich ja ganz unterschiedliche, viele Bilder in den Lesenden einstellen.

Liebe und Natur sind wesentliche Themen in «Lichte Landschaft», und das auf dem gegenüberliegenden Bild enthaltene Gedicht «August» scheint mir in der Art, wie darin beide miteinander verwoben sind, exemplarisch. Die Liebe kam mir hier aber vor allem wegen ihrer Abwesenheit in den Sinn, als Referenz zu Ingeborg Bachmanns «Erklär mir, Liebe».
Sie weisen ganz richtig auf eine Allusion hin, wobei mir zugleich wichtig ist, dass die Anspielung – oder das Wissen um sie – für das Gedicht nicht wirklich ins Gewicht fällt. Das ist eher ein Antippen, das einen zusätzlichen Raum oder Aspekt eröffnen kann oder könnte, aber nicht muss. Sagen wir im Alltag nicht oft: «Kannst du mir … erklären?», und rufen dabei nicht immer gleich die Liebe an oder den grossen Bären? – Sie sprechen vom Abwesenden – es könnte da auch nur das Wörtchen «bitte» fehlen.

In «August» gibt es noch eine Anspielung, auf ein Gedicht einer anderen Autorin, wiewohl auch diese Allusion im Grund sekundär ist, denn Wiese, Biene, Klee sind eigentlich allen Menschen in unseren Breitengraden bekannt – und können, nebenbei bemerkt, rein sprachlich gesehen durchaus in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden. Also, man könnte bei der Lektüre von «August» gleich auch an das Gedicht «To Make a Prairie» von Emily Dickinson denken. Es besteht aber keine Notwendigkeit, dieses Gedicht zu kennen, es ist keine Voraussetzung fürs Lesen von «August». Wobei man, auch nebenbei bemerkt, schon den Titel, das Wort «August», auf zwei Arten, also in unterschiedlicher Weise aussprechen könnte …

Und dann gibt es in «August» die Bewegung der Umkehrung. Sie zählen die Monate in umgekehrter Reihenfolge auf, das Gedicht spricht von einer Aufhebung des Oben oder Unten –
Ja, da geht es um etwas Verkehrtes, da gibt es eine Spiegelung. Die Spiegelung lässt mich an ein anderes Gedicht in «Lichte Landschaft» denken, an «Balsam», in dem von Tropfen Tau die Rede ist und von einer ganzen Welt, die in ihrem Leuchten enthalten sein könnte.

Wie in einer Wahrsagerkugel?
Eher assoziiere ich ein Zusammenfliessen der einzelnen kleinen Tropfen Tau in einen grossen Tropfen, in dem man eine Welt wie durch ein Fischaugenobjektiv sehen könnte; dann wäre aber auch gleich wieder die Auffaltung da, der Zerfall (zurück) in viele Tropfen Tau, viele kleine Spiegel mit ihren Bildern; und dann wäre da aber auch gleich wieder nichts anderes da, als was da steht, als die Tropfen Tau.

Das Gedicht als Spiegel?
Spiegel? – Es wäre eine Möglichkeit, es so zu sehen. Oder auch als Modell, wenn auch nicht gleich für die ganze Wirklichkeit … Ich sehe ein Gedicht gern als ein Angebot an die Lesenden, das ihnen viel Spielraum, viel Freiheit lässt, selber etwas damit anzufangen, für sich etwas daraus zu entwickeln. Eigenartig, dass ich mit diesem Ausdruck wieder bei der Fotografie bin, denn beim einen oder andern Gedicht könnte man an Doppelbelichtungen einer Szene oder auch an Vexierbilder denken, schlicht, weil die Sprache mehrere Ebenen in sich trägt.

Ist diese Freiheit, von der Sie sprechen, aber immer willkommen? Oft wird man doch als Lyrikschreibende mit der Bitte konfrontiert, das Gedicht zu erklären.
Das ist so. Es fällt nicht allen Lesern und Leserinnen leicht, mit dieser Freiheit etwas anzufangen, es ist eine Freiheit zu, nicht Freiheit von. Ich muss jetzt wieder an das Gedicht von Emily Dickinson denken, das ich wirklich liebe, auch weil es so kurz ist. Da heisst es ja «To make a prairie it takes a clover and one bee / One clover and a bee». – Da finde ich schon wunderbar, wie die Aufmerksamkeit herausgefordert ist und geschärft wird durch «a clover and one bee / One clover and a bee»; dabei sind nur die kleinen Wörter «one» und «a» ausgetauscht oder übrigens auch: gespiegelt.

Bei mir löst dieser kleine Kunstgriff ebenso grosse Freude aus wie dann «And revery. / The revery alone will do / If bees are few». «Revery» ist die Träumerei, ich lese darin aber gern die Fantasie, die Vorstellungskraft, die angesprochen oder in Gang gesetzt werden kann beim Lesen wie beim Schreiben von Gedichten. Wobei wir da wiederum bei der bildlichen Ebene sind, die klangliche ist mir, wie gesagt, genauso wichtig.

Was sich in den vielen Assonanzen, Halbreimen oder Binnenreimen in Ihren Gedichten zeigt.
Ganz richtig, und ich mag auch diese kleinen Unterschiede, die minimalen Vertauschungen oder Verschiebungen, für die wir mit «wichtig» und «richtig» gerade ein wunderbares Beispiel zur Hand haben.

Ingrid Fichtner, 1954 in Judenburg, Österreich, geboren, studierte Anglistik und Philosophie in Wien. Seit 1985 lebt sie in der Schweiz, seit 1996 als Schriftstellerin und Übersetzerin in Zürich.

Aus der vorgefundenen Sprache wie neu geboren

Auf jedes Wort, jeden Ton, jede Nuance kommt es in Gedichten an, und nirgends sonst wirkt sich die (Ab-)Nutzung von Wörtern und Begriffen fühlbarer aus. Und doch entstehen immer wieder Gedichte wie jene von Ingrid Fichtner, die mit dem überlieferten Vokabular Neues, Frisches, unmittelbar Einleuchtendes und doch künstlerisch Anspruchsvolles schaffen.

Wundervoll, wie mit wenigen Worten ein Bild evoziert wird, wie genau der Rhythmus stimmt und sich das Skizzenhaft-Aphoristische unversehens zum geheimnisumwitterten Drama ausweitet («Idyll»). Aus blossen Farben und Strichen kann die Andeutung eines Liebesgedichts entstehen («Die Linie»). Der virtuose Umgang mit dem Sprachmaterial zeigt sich am augenfälligsten, wenn die vorder- und hintergründige Bedeutung eines Dings sich verzahnen und aus der Spannung zwischen den beiden eine nicht erzählte Geschichte blitzt. Oder wenn eine seelische Erschütterung in Körperbeschreibungen gelegt wird («Bett und Bergung»), wenn ein banaler Vorgang wie das Fallen von Regentropfen unprätentiös in ein Bild gefasst wird, sodass man sie wie Musik zwischen Frühlingsbäumen fallen hört («Wie Regentropfen»), wenn eine Landschaft, mit den Augen eines Malers gesehen, farblich zu leuchten beginnt («November») oder ein Gang durch eine Winterlandschaft eine ganze abgründige Welt evoziert («Vom Rand»).

Gedichte sind gedanklich komprimiert, formal zugespitzt. Wenn es glückt, sie zu makellosen Gebilden zu formen, werden sie den Roman, das Drama und vielleicht sogar den Comicstrip überleben.

Charles Linsmayer

Ingrid Fichtner: «Lichte Landschaft». Wolfbach Verlag, «die Reihe» Nr. 8. Zürich 2012. 88 Seiten. 30 Franken.