Jacques de haller: Nur ein halber Hausarzt?

Nr. 22 –

Am 7. Juni möchte Jacques de Haller erneut zum Schweizer ÄrztInnen-Präsident gewählt werden. Bei einigen seiner KollegInnen ist er allerdings wegen seiner Mitgliedschaft in der SP und seiner Haltung zu Managed Care umstritten.

Jacques de Haller: «Dass die FDP das FMH-Präsidium zurückmöchte, kann ich nachvollziehen. Aber ich sitze hier als Vertreter der Interessen aller Ärztinnen und Ärzte.» Foto: Ursula Häne

Am rechten Ringfinger trägt der oberste Arzt der Schweiz einen goldenen Siegelring, ein Erbstück: darauf ein Baum, darüber Sterne. «Natürlich rote», sagt Jacques de Haller. Der bald Sechzigjährige, seit 2004 Präsident der Verbindung der Schweizerischen Ärztinnen und Ärzte (FMH) – im letzten Herbst erfolgloser Nationalratskandidat der Stadtberner SP, früher Hausarzt in Genf –, stammt aus einer Berner Burgerfamilie. Er kann den Schweizer Universalgelehrten der Aufklärung Albrecht von Haller, Botaniker, Mediziner, Politiker, Philosophen und Dichter, zu seinen Vorfahren zählen.

Linke Blaublüter

1749 wurde Albrecht von Haller für seine wissenschaftlichen Leistungen an der Universität Göttingen vom deutschen Kaiser in den Adelsstand erhoben. Jacques de Haller sagt heute: «Albrecht war ein unglaublicher Kerl. Die Chromosomen haben sich dann leider ein wenig verwässert.» Der Sozialdemokrat mit Hang zum altreichen Understatement sieht in diesem Erbe heute eine soziale Verpflichtung, kein Privileg: «Der Ring ist für mich ein Symbol für die politische Kultur in unserer Familie. Eine Kultur des gesellschaftlichen Engagements. Es geht mir nicht um den Namen. Sondern um eine Verpflichtung, die eigenen Möglichkeiten fürs gesellschaftliche Wirken einzusetzen.» Bei den blaublütigen de Hallers scheint sich dieses Wirken allerdings in jüngster Zeit nach links gewendet zu haben: Eine Schwester von Jacques de Haller sitzt für das Linksbündnis «À gauche toute» in der Regierung von Carouge, der Nachbarstadt von Genf, die andere ist im Genfer VPOD engagiert. Der Bruder ist Verwaltungsdirektor der Musik-Akademie Basel.

De Hallers eigenes Amt steht gerade auf dem Spiel: Am 7. Juni wählt die Ärztekammer, das Parlament der FMH, den Zentralvorstand und ihren Präsidenten neu. De Haller, der im Genfer Innenstadtquartier Plainpalais zwanzig Jahre lang eine Hausarztpraxis betrieb, kandidiert für eine dritte Amtszeit. Konkurrenz macht ihm der Zürcher Chirurg Urs Stoffel. Dieser sagt: «Es geht darum, wie die FMH in Zukunft geführt werden soll. Eher in Richtung zentralistisch, wie es von de Haller praktiziert wird, oder eher teamorientiert, wie ich es anstrebe.»

Sicher ist de Hallers Wiederwahl nicht, wohl vor allem aus zwei Gründen: seine SP-Mitgliedschaft und seine Position zu Managed Care. Der Beitritt zur SP im Jahr 2010 und die Nationalratskandidatur in Bern im letzten Herbst kosteten ihn in der FMH Sympathien: «Es ist problematisch, wenn man während einer Legislatur in eine Partei eintritt und eine parteipolitische Karriere anstrebt», sagt Urs Stoffel, der selbst seit langem mandatsloses FDP-Mitglied ist.

Jacques de Haller verteidigt sich in seinem bescheidenen Berner FMH-Büro in einem schmucklosen Siebzigerjahrebau, umgeben von üppigen Botschaftsvillen im Berner Kirchenfeldquartier: «Dass die FDP sich das FMH-Präsidium zurückwünscht, kann ich nachvollziehen. Aber ich sitze hier nicht als SP-Mann, sondern als Vertreter der Interessen aller Ärztinnen und Ärzte.» Seine politische Haltung sei auch schon bekannt gewesen, als er zwischen 2000 und 2004 noch als Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) geamtet hatte. Insofern hätten die Ärztinnen und Ärzte schon vor vier und acht Jahren keine politische Wundertüte gewählt, findet de Haller und sagt: «Mein Arbeitsalltag in meiner Genfer Praxis hat mich zum Sozialdemokraten gemacht.»

Im Genfer Quartier Plainpalais, das den grössten Stadtplatz der Schweiz umgibt, behandelte de Haller eine vielfältige PatientInnenschaft: Deutschschweizer SeniorInnen, die in der Krise der dreissiger Jahre nach Genf gekommen waren, PortugiesInnen, die in den Achtzigern und Neunzigern kamen, StudentInnen, HIV-PatientInnen, Arme. Die Realitäten dieser Menschen hätten ihm gezeigt: «Es gibt zu viele Leute, die sich aufgrund ihrer Lebensbedingungen nicht entfalten können. Das ist philosophisch, theologisch, menschlich, gesellschaftlich, sozial – auf jeder Ebene – ein Verlust. Hier muss die Gesellschaft einschreiten.» Trotz seiner zwanzig Hausarztpraxisjahre steht de Haller zurzeit bei seinen AllgemeinmedizinerkollegInnen in der FMH in der Kritik. Sein Grindelwaldner Kollege Marc Müller, Präsident des Verbands der Schweizer Haus- und Kinderärzte, meint, dass sich der FMH-Präsident in den letzten Jahren alle Mühe gegeben habe, nicht als Vertreter der Allgemeinmedizin zu gelten. Zu stark sind die Interessenkonflikte und Standesanimositäten zwischen den einzelnen Berufsgattungen innerhalb der FMH.

Spricht de Haller über seine Zeit in der Genfer Praxis, klingt er allerdings wie ein fürsorglicher Hausdoktor im weissen Kittel: «Es geht immer um eine emotionale Beziehung zwischen Patient und Arzt. Um das Entgegenkommen, Treffen, Diskutieren, Mitleiden. Der Hausarzt ist emotional immer an der Realität seiner Patientinnen und Patienten beteiligt. Die Realität der Leute wird zur eigenen.» De Haller wehrt sich gegen ein Menschenbild, das PatientInnen in erster Linie als potentielle Systemparasiten und Selbstverschulderinnen ihrer Probleme darstellt: «Es gibt einfach Menschen, die gravierende persönliche Schwierigkeiten haben. Sie kämpfen, so gut sie eben können. Aber es gibt Grenzen. Manchmal gehts schlicht nicht mehr weiter.»

Stolperstein Managed Care

Diese medizinische Ethik sieht Jacques de Haller durch die Managed-Care-Vorlage, über die am 17. Juni abgestimmt wird (vgl. Pro und Kontra Managed Care ), gefährdet. Womit wir beim zweiten Grund wären, weshalb de Hallers Stuhl als FMH-Präsident wackelt: Während de Haller vor zehn Jahren noch zu den InitiantInnen der Reformidee einer integrierten medizinischen Versorgung gehörte, bekämpft er die Vorlage heute vehement. Und während SP-Gesundheitsminister Alain Berset, ein Vertrauter de Hallers, mit der Wahl zum Bundesrat vom Kontra- ins Pro-Lager wechselte, ging sein Genosse de Haller den umgekehrten Weg.

Auch das nehmen de Haller die HausärztInnen in der FMH übel, ihr Verband hat für Managed Care nämlich die Ja-Parole beschlossen. Entscheidend für seinen Meinungsumschwung, sagt Jacques de Haller, sei die Schlussphase der Managed-Care-Debatte in den eidgenössischen Räten gewesen: Die Krankenkassen hätten dort nach jahrelanger Kompromisssuche zwischen ÄrztInnen, Spitälern, Kassen und der Politik noch ihre Forderungen zur Einschränkung der freien Arztwahl unter Managed Care durchgedrückt. «Wenn ein Patient, eine Patientin nur noch unter massiven Mehrkosten frei entscheiden kann, von welchen Kollegen er oder sie sich behandeln lassen will, dann ist diese wichtige emotionale Bindung zwischen Arzt und Patient gefährdet.»

Hausarzt-Präsident Marc Müller will von einer solchen Gefährdung der medizinischen Ethik durch Managed Care nichts wissen: «Für Jacques de Haller stehen hier nicht ethische Fragen im Vordergrund, er vertritt heute schlicht die FMH als Ganzes.»

In einer Urabstimmung hatten deren Mitglieder die Nein-Parole zur Managed-Care-Vorlage beschlossen. Ein geeintes Auftreten der ÄrztInnen war dem FMH-Präsidenten in den letzten acht Jahren ein zentrales Anliegen. Es sollte die Lobby der ÄrztInnen in den politischen Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen und der Pharmaindustrie stärken. Hausarzt-Präsident Müller hingegen tritt – wie Chirurg Urs Stoffel, de Hallers Konkurrent ums Präsidium – für eine dezentralere Organisation der FMH ein, in der die einzelnen Berufsverbände mehr Autonomie geniessen: «Wo es geht, sollten wir zusammen lobbyieren, wo nicht, jeder Verband für sich.» De Haller befürchtet allerdings, dass eine holdingartig organisierte FMH zu einem massiven Bedeutungsverlust der Ärztevereinigung führen könnte.

Und was macht der nach eigenen Aussagen 160-Prozent-Arbeiter de Haller, wenn er am 7. Juni die FMH-Wahl verliert? Gehts dann zurück in die Praxis? «Nein, ich war acht Jahre weg, das geht nicht mehr. Ich werde mich weiterhin in der Gesundheitspolitik engagieren.» Laut aktuellem Leistungstest, den de Haller jährlich absolviert, wäre er dafür jedenfalls fit genug: «Der Kreislauf stimmt.»

Die FMH

Die Schweizerische Ärztevereinigung FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum) ist der Berufsdachverband der Schweizer ÄrztInnenschaft. Sie hat rund 35 000 Mitglieder, was 95 Prozent aller in der Schweiz tätigen ÄrztInnen entspricht.

Die FMH reglementiert und überwacht die ärztliche Weiterbildung, redet bei den Tarifstrukturen der MedizinerInnen mit, kümmert sich um die Qualitätssicherung und vertritt die ÄrztInnen in der Politik.