Bildrausch: Und die Arche ist gebaut aus Restmüll

Nr. 24 –

Von einem, der auszog, unsichtbar zu werden: Das Bildrausch-Filmfest in Basel zeigt «Untitled», das filmische Vermächtnis des österreichischen Kosmopoliten Michael Glawogger (1959–2014).

Konzentriert bis in die Fingerspitzen: Nahkampf in Michael Glawoggers letztem Film «Untitled». Still: Lotus Film

Bei meiner zweiten und letzten Begegnung mit Michael Glawogger sass er vor einer gemalten Südseekulisse irgendwo in Guinea. Es war eine Videobotschaft, die er an die Diagonale nach Graz sandte, zur Premiere des Landkrimis, den er fürs österreichische Fernsehen gedreht hatte. Das Kino war voll mit öffentlich-rechtlichen hohen Tieren und HonoratiorInnen, auf der Leinwand freute sich der Regisseur diebisch, dass er gerade ganz woanders war, und prostete uns allen mit afrikanischem Bier zu. Keine fünf Wochen später war er tot, gestorben an den Folgen einer Malariainfektion.

Ein ganzes Jahr lang hätte Glawogger um die Welt reisen wollen, um dabei alles zu filmen, was ihm begegnet, für einen Dokumentarfilm ohne Titel und ohne Thema. Er wollte so einen Traum erhaschen, der ihn schon sein ganzes Arbeitsleben verfolgte: den Traum von einem «Film, der nie zur Ruhe kommt». Von dem Jahr sollten ihm nur 71 Tage bleiben, und aus dem Rohmaterial von dieser Etappe hat nun seine langjährige Weggefährtin Monika Willi, Schnittmeisterin auch für Michael Haneke, den Film «Untitled» geschnitten – Glawoggers Vermächtnis als Annäherung an seinen Traum.

Die Vertreibung aus dem Paradies

Es ist ein Kaleidoskop des Daseins, ein Mosaik, das keiner chronologischen Ordnung gehorcht und das geografische Grenzen in der Montage auflöst. Glawogger geht durch die Welt wie ein Ethnograf ohne Mission – ein Drifter auf den Schattenseiten der Globalisierung, wie man ihn seit seinen weltumspannenden Dokumentarfilmen «Workingman’s Death» (2005) oder «Whores’ Glory» (2011) kennt. Der erste Blick in «Untitled» geht durch hohes Schilfgras auf ein nicht sehr einladendes Hotel Eden, und dann schreckt das kleine Filmteam einen riesigen Schwarm von Staren auf, die hinter dem Schilf aufflattern, um als metamorphes Gebilde über den Himmel zu tanzen. In dieser Einstellung ist eigentlich alles schon drin, was diesen Film und Glawogger überhaupt ausmacht: das Hotel als Transitraum, die Vertreibung aus dem Paradies und dem allem zum Trotz das Festhalten an der Schönheit – und der Mensch als Motor, der die Dinge zum Fliegen bringt (oder auch nicht).

Was wir dann sehen? Kinder, die sich mit einer Ziegenherde an einem Müllhaufen gütlich tun, irgendwo in der windigen nordafrikanischen Wüste. Ringkämpfer beim Training im Sand, schwarze Körper, hoch konzentriert, dann keuchend und ineinander verknäuelt. Oder Strandfussballer beim Singen im Kreis, aber irgendwas klappert dazwischen, bis wir sehen: Das sind ihre Krücken, an denen sie dann spielend durch den Sand jagen, die Minenopfer des War Amputee Sports Club in Freetown, Sierra Leone. Anderswo werden Bäume gefällt, immer wieder wird irgendwelches Vieh festgezurrt, Wasserkanister werden in irrem Tempo durch die Strassen geschoben – ein ständiges Treiben und ewiges Gewusel, wie bei den Fliegen und Maden am Kadaver, der einmal am Strassenrand in der Wüste liegt.

Vaterunser der Bürokratie

Und aus dem Off, gesprochen von Fiona Shaw, begleitet uns Glawoggers Reisetagebuch in der dritten Person, das er für den «Standard» und die «Süddeutsche» schrieb. Jede scheinbar noch so belanglose Wirklichkeit, die er unterwegs antrifft, verleitet ihn zu gedanklichen Volten. Da betet er einmal ein Vaterunser der Bürokratie («Unser täglich Formular gib uns heute»), er erfindet mal eben eine zukünftige Weltsprache, deren Wortschatz nur aus den Namen von Fussballstars bestünde, oder er sinniert in einer gespenstischen Vision darüber, wie Noahs Arche heute aussähe: Sie wäre nicht mehr aus Holz, sondern aus Altmetall und Plastikkanistern. Er erklärt, wieso eine Stadt lauter, aber auch bunter ist, wenn nachts der Strom ausfällt (Generatoren und das Licht von Handydisplays). Und angesichts eines Hundes, der an einem Fenster über einem Torbogen steht, stolz, mit beiden Pfoten auf dem Sims, entwickelt er nebenbei eine ganze Philosophie der menschlichen Freiheit.

Dabei sucht er eigentlich nur eins: das Verschwinden. «Die Welt ist so gross, man muss sich doch irgendwo verstecken können, wo einen keiner findet», notiert Glawogger in der Kleinstadt Harper am äussersten Zipfel von Liberia. Schwierig hier, sich unsichtbar zu machen, wie er sich das schon als Kind erträumte, er ist ja weiss, «weiss und fremd», gehört nicht hierher. Es ist Glawoggers letzte Depesche von seiner Reise, und dann beschreibt er, wie er sich auf einen kaputten Balkon stellt und eine kleine Ansprache für niemanden hält, so lächerlich wie anrührend: «Bitte versteckt mich, gebt mir ein Zimmer in einem eurer grossen Häuser, von dem aus ich das Meer sehen kann, redet mit mir, bis ich eure Sprache verstehe, und sagt niemandem, dass ich hier bin. Bis ich so lange da war, dass mich keiner mehr sieht.»

«Untitled» am Bildrausch in Basel: Samstag, 24. Juni 2017, 19 Uhr, Kultkino Atelier (in Anwesenheit von Monika Willi). Ab Juli im Kinok St. Gallen, später im Kino Cameo Winterthur und im Kino Rex Bern.

Das Bildrausch-Filmfest in Basel läuft vom 21. bis 26. Juni 2017. Im Wettbewerb sind unter anderen neue Filme von Kim Ki Duk, Romuald Karmakar und Terence Davies zu sehen. Letzterer wird zudem mit einer Werkschau geehrt, ebenso die portugiesische Regisseurin Teresa Villaverde. Genaues Programm: www.bildrausch-basel.ch.

Untitled. Regie: Michael Glawogger. Österreich 2017