Tipp der Woche: Fieberzauber am Bildrausch

Nr. 23 –

Hypnotisch flackert der Zerfall: Bill Morrisons experimenteller Kurzfilm «Light Is Calling» (2003). Still: © Bill Morrison

Grüblerische Mienen beim Lesegrüppchen am Strand, eine junge Frau sagt ernst: «Aber Marx sagt ja schon explizit, dass der Kapitalist Blut saugt.» Wir schreiben das Jahr 1928, aber wer so etwas wie einen stilechten Historienfilm erwartet, ist beim deutschen Regisseur Julian Radlmaier an den Falschen geraten: Er hats lieber ungeniert anachronistisch als vermeintlich authentisch. Sein neuer Film «Blutsauger» ist jetzt am Bildrausch-Festival in Basel zu sehen, das sich binnen weniger Jahre einen Namen gemacht hat als das Filmfestival mit dem eigenständigsten künstlerischen Profil in der Schweiz.

Hier ist also auch Platz für eine marxistische Vampirkomödie, was man getrost beim Wort nehmen darf – wie das der Regisseur ja seinerseits mit Karl Marx und dessen berühmter Metapher vom Kapital als toter Arbeit tut, «die sich nur vampirmässig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit». Radlmaier spinnt daraus eine postmodern kostümierte Theorieposse um einen sowjetischen Arbeiter, der für Eisenstein den Trotzki gespielt hatte und dann vor Stalin fliehen musste. Unterwegs nach Hollywood sitzt er jetzt an der Ostsee fest, gibt sich als Baron aus und landet bei einer reichen Fabrikbesitzerin mit dem sprechenden Namen Flambow-Jansen. Die mondäne Gesellschaft schlägt sich mit chinesischen Flöhen und anderen proletarischen Plagen herum, bis man sich angesichts der Bissmuster fragen muss, ob nicht vielleicht doch ein echter Vampir umgeht.

Längst nicht alles ist so explizit akademisch am diesjährigen Bildrausch. Einiges konventioneller ist wohl der andere Kostümfilm mit Marx im Titel, wobei Karl selber auch hier schon tot ist: «Miss Marx» von Susanna Nicchiarelli ist ein historisches Biopic über seine Tochter Eleonor, mit Romola Garai in der Hauptrolle. Das sind zwei von insgesamt vierzehn Filmen im internationalen Wettbewerb, handverlesen an den Festivals in Berlin, Rotterdam oder Venedig.

Eine Werkschau ist den politischen Arbeiten des libanesischen Künstlerduos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige gewidmet; für den stilistisch wohl grössten Kontrast sorgen die ungemein sinnlichen Formzaubereien des Animationsfilmers Félix Dufour-Laperrière, der am Bildrausch ebenfalls mit einer kleinen Retrospektive gewürdigt wird. Im Wettbewerb zeigt der Kanadier zudem seinen neusten Langfilm «Archipel», eine bezaubernde Rhapsodie über Geschichte und Geografie der 234 Inseln im Hochelaga-Archipel in der Provinz Québec. Der poetische Dialog der Off-Stimmen wabert zwar etwas im Ungefähren, aber was sich vor unseren Augen dazu entfaltet, ist ein wahres zeichnerisches Wunderwerk zwischen Zeugnis und Fantasie – ein in jeder Hinsicht hybrider Essayfilm, so vielgestaltig wie die Flusslandschaft, von der er erzählt.

Auch das Festival findet übrigens hybrid statt: Den Grossteil der Filme am Bildrausch kann man für sechzig Franken auch streamen. Nur im Kino ist hingegen die Werkschau mit den «Hypnotic Pictures» des New Yorker Archivkünstlers Bill Morrison zu sehen. Sein Kurzfilm «Light Is Calling» (2003) etwa besteht aus Szenen aus einem Stummfilm von 1926: Schadhaftes Filmmaterial flackert in stetem Wandel, ein absolut betörender Fieberzauber von Texturen des Zerfalls. Oder wie der Kulturwissenschaftler Johannes Binotto letzten Herbst in der WOZ über Morrisons Experimentalfilme schrieb: «Staunend sehen wir zu, wie die Personen in alten Stummfilmen überwuchert werden von Kristallen und hinweggerafft im aufquellenden, sich verformenden, verwesenden Filmmaterial.» Verstörend sei das, so Binotto, und begeisternd zugleich.

10. Bildrausch Filmfest in: Basel Stadtkino (Festivalzentrum), Kino Atelier und Neues Kino. Mi–So, 16.–20. Juni 2021. Programm und Informationen: www.bildrausch-basel.ch.