Stein am Rhein: Kaiser Franz im Disneyland
Das Städtchen Stein am Rhein lockt jährlich Tausende TouristInnen an, die die historische Altstadt bestaunen. Doch auch in Stein gibts Probleme: Entenscheisse zum Beispiel.

Auf der Rheinbrücke stehen zwei amerikanische Touristinnen: «Beautiful!» – «Amazing!». Kein Wölkchen trübt den Himmel über den altehrwürdigen Bürgerhäusern mit den weitherum bekannten Fassadenmalereien. Als ich klein war, dachte ich, alle Städte sähen aus wie das Städtchen Stein am Rhein, wo meine Mutter jeden Samstag beim Bäcker das Brot, beim Metzger das Fleisch und beim «Chäs Graf» den Käse kaufte. In Wirklichkeit ist der Ort ein aufwendig restauriertes Freilichtmuseum, «Disneyland» sagen böse Zungen dazu.
Es ist das Werk jenes Mannes, den sie «Kaiser Franz» nannten. Siebzehn Jahre lang hatte er über das städtebauliche Kleinod am Rand des Kantons Schaffhausen geherrscht, es gepützelt und poliert, auf dass es sich im Glanz der Bewunderung aus aller Welt sonnen durfte. Nun sitzt der abgedankte Kaiser Franz hoch über dem Städtchen als Gastwirt auf der Burg Hohenklingen, die er vor nicht allzu langer Zeit für mehr als zwanzig Millionen Franken restaurieren liess – und jemand anderes soll die Geschicke im Städtchen leiten. Wer das sein soll, ist ungewiss.
Schönheitskur dank Novartis
Beginnen wir mit den Geschwistern Jakob und Emma Windler. Diese erbten in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts einige Aktien der Basler Firma Sandoz von ihrem Onkel, der bei der Sandoz im Verwaltungsrat gesessen war. Die Geschwister, beide kinderlos, befanden, ihr Erbe solle nach ihrem Ableben für «Beihilfen an Bürger oder Einwohner schweizerischer Nationalität» sowie für «Massnahmen zur Erhaltung und Verschönerung des überlieferten Ortsbildes und der städtischen Museen» eingesetzt werden. Aus der Sandoz wurde durch die Fusion mit der Ciba-Geigy der heutige Pharmamulti Novartis, das im Besitz der Stiftung befindliche Aktienprozent wirft jährlich rund zwölf Millionen Franken Dividenden ab. Die Windlers, so sagt man, seien gelinde gesagt sparsam gewesen, so sparsam, dass sie das Kaffeepulver jeweils zweimal aufgebrüht haben sollen.
Diese Sparsamkeit legte Franz Hostettmann nicht an den Tag. Mit vollen Händen gab der Stadtpräsident das Geld aus, das ihm in rauen Mengen zur Verfügung stand. Denn der Stadtpräsident Stein am Rheins hat per Definition einen Sitz im Stiftungsrat inne, zusammen mit zwei (ortsfremden) Vertretern von Novartis.
Dabei berücksichtigte der leutselige Gastwirt, der vor siebzehn Jahren für die SVP ins Stadtpräsidium gewählt worden war, unter den ausgewiesenen Stiftungszwecken vor allem den Punkt «Erhaltung und Verschönerung des Ortsbildes» – und damit das lokale Gewerbe. Dieses dankte es ihm mit der zuverlässigen Wiederwahl. Und so wäre es vermutlich auch dieses Mal gekommen, hätte Hostettmann für eine weitere Amtszeit kandidiert, was er durchaus vorhatte. Doch daraus wurde nichts. Offiziell trat Franz Hostettmann aus gesundheitlichen Gründen per 13. Mai zurück. Etwas weniger offiziell heisst es, dass die versammelte Stadtregierung in Hostettmanns Büro aufmarschiert sei und ihm den Rücktritt noch vor Ablauf der Legislatur dringlich nahegelegt habe.
Seit den Samstagen, als meine Mutter im Städtchen einkaufte, hat sich einiges verändert. Mit den aufgehübschten Fassaden kamen immer mehr TouristInnen (am häufigsten mit dem Fahrrad aus Deutschland) und mit den TouristInnen noch mehr Kunsthandwerkläden und Galerien und Souvenirshops, als ohnehin schon da waren. Auf der Fassade der mittlerweile einzigen Metzgerei im Ort ist ein Pelikan zu sehen, der sich aufopferungsvoll mit dem Schnabel in die Brust piekst, auf dass sein Blut in die hungrig klaffenden Schnäbel seiner Jungen tropfe. Bluten musste das Städtchen der Schönheitskur wegen zumindest nicht finanziell. Aufopferungsvoll war hingegen Stadtpräsident Hostettmann – nur dankten es ihm die Kinder der Stadt irgendwann nicht mehr.
Arbeiten zu delegieren, lag ihm nicht. Bei gut der Hälfte aller städtischen Kommissionen sass Hostettmann im Präsidium. Selbst die Wochenenden verbrachte er im Büro. Kein politisches Geschäft, das nicht über Hostettmanns Tisch gegangen wäre und – dies sollte ein Grund für den Abgang werden – manchmal ausschliesslich über seinen. Hostettmann wird vorgeworfen, sich wiederholt über in den Gremien gefällte Mehrheitsentscheide hinweggesetzt zu haben. Nicht immer war transparent, wofür wie viel des Stiftungsgeldes ausgegeben wurde, und der Novartis-Geldsegen weckte allerhand Begehrlichkeiten. Irgendwann wurde es den BewohnerInnen des 3200-Seelen-Städtchens zu viel: An der Urne verwarfen sie ein Parkhausprojekt, das nicht nur von sämtlichen Parteien getragen wurde, sondern auch zu mehr als zwei Dritteln von der Windler-Stiftung finanziert worden wäre.
Weltgewandt auf Farsi
Bundesordner sollen durch den Raum geflogen sein, als der Stadtrat Hostettmann mit der Rücktrittsforderung konfrontierte. Der langjährige Stadtpräsident war schon seit jeher für sein aufbrausendes Gebaren bekannt. Einerseits. Andererseits gab sich Hostettmann in der Öffentlichkeit weltgewandt, sprach mehrere Sprachen, darunter auch Farsi, das er sich in jungen Jahren bei einem Berufsaufenthalt im Iran angeeignet hatte. Als Gastgeber zeigte er sich grosszügig, empfing BesucherInnen aus aller Welt mit offenen Armen, liess ältere, sozial schwächere EinwohnerInnen von seiner Terrasse aus das alljährliche 1.-August-Feuerwerk betrachten, das er zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus der eigenen Tasche finanzierte. Kaum jemand im Städtchen, der nach seinem Abgang schlecht über Hostettmann redet, kaum jemand, der seine Verdienste nicht wortreich zu würdigen wüsste.
Im Jahr 2008 rief Hostettmann zusammen mit der Stiftung Think Tank Thurgau das «Stars Symposium» ins Leben – eine Art Mini-Weltwirtschaftsforum, wo handverlesene internationale Gäste in geschlossener Gesellschaft tagen. Zweck des Ganzen ist, so sagt es Stars-Stiftungsratspräsident Toni Schönenberger, «den Leadern von heute die Möglichkeit zu geben, die Leader von morgen zu benennen». Josef Ackermann war schon da, dieses Jahr soll Joschka Fischer kommen. Während also die Leader von heute und morgen die Perspektiven des ganzen Planeten ausloten, beschäftigt sich der Einwohnerrat in Stein am Rhein mit etwas profaneren Dingen.
Runde und eckige Sonnenschirme
So ist zum Beispiel im Sitzungsprotokoll von September 2011 zu lesen: «Was ihn [Guido Lengwiler, Pro Stein] aber stört, ist, wenn er am Sonntagmorgen um 7.30 Uhr über einen nassen, extrem von Enten verschissenen, Steg gehen muss und es knapp schafft, nicht auszurutschen. Aber es ist dann unmöglich das Gepäck an einem sauberen Plätzchen abzustellen, um das Boot zu lösen.»
Oder es gab eine dem Anschein nach hitzige Debatte zur Verordnung über die Boulevardrestaurants, in der Baureferent Beat Hug (vgl. «Die ‹Wahlaktivitäten› ums Präsidium» im Anschluss an diesen Text) dies zu berichten wusste: «Bis jetzt wurden in diesem Artikel für die Altstadt-Zone nur runde Sonnenschirme zugelassen mit einem Durchmesser bis maximal 4 m. Der Stadtrat ist der Meinung, dass auch Sonnenschirme mit einer Seitenlänge von maximal 4 m zugelassen werden sollten (…). Die Praxis hat gezeigt, dass die runden Sonnenschirme in der Handhabung mühsam sind, da sie immer wieder umhergeschoben werden müssen, damit die Beschattung ausreichend ist.»
Nun ist es nicht so, dass es in Stein am Rhein nicht auch andere Themen als Entenscheisse und Sonnenschirme gäbe, mit denen sich die Politik beschäftigen könnte: Da wären der Bau von dringend notwendigen Alterswohnungen und die Sanierung des Altersheims. Oder die mangelnden Angebote für die Steiner Jugend. Oder das Quartier «Vor der Brugg» mit der Mehrfamilienhaussiedlung Burgacker, von ihren BewohnerInnen liebevoll «Ghetto» genannt, die so gar nicht ins fassadenbemalte Pseudoidyll passen will. Das alles soll nun die neue Stadtpräsidentin oder der neue Stadtpräsident richten.
Im Übrigen aber bleibt Stein am Rhein auch nach der Ära Hostettmann, was es war: Beautiful. Amazing. Und von Geldsorgen verschont.