Medientagebuch: Simulierte Hellsichtigkeit

Nr. 28 –

Adrian Riklin über Sport- und andere FernsehkommentatorInnen.

Das Leben im 21. Jahrhundert ist eine Talkshow. Alles piepst und plappert und sprudelt. Egal, ob es um ein Erdbeben in Italien, Parlamentswahlen in Griechenland oder die Fussball-europameisterschaft geht: pausenloses Geschwätz. Und auf allen Kanälen: ExpertInnen.

Der zeitgenössische Experte braucht nicht wirklich Ahnung zu haben. Was er beherrschen sollte, ist der Habitus: die Art und Weise des In-die-Welt-Schauens und Raunens. Ein echter Experte wäre ja einer, der sich tatsächlich auskennt: zumindest auf einem bestimmten Gebiet und aus eigener Erfahrung. Zwangsläufig wäre er ein Zweifler. Das wiederum aber passt nicht in die gängigen Formate. Und so haben wir es mit einem Expertentypus zu tun, der immer und überall zuschaut und zu allem und jedem sogleich etwas aus dem enzyklopädischen Secondhandshop fischt. Das Wissen, das er absondert, ist allerhöchstens sekundär. Und weil der zeitgenössische Experte keine Verdauung kennt, kommentiert er das Geschehen schon, bevor es zu Ende ist.

Wenn also ein politischer Moderator in eine Talkrunde geladen wird, um unmittelbar nach dem Ausscheiden des deutschen Fussballnationalteams die tieferen Gründe von dessen Scheitern zu analysieren, klingen seine Ausführungen, als wäre er vom Fussballfach. Es ist eine Lektion in zeitgenössischem Allerweltsjournalismus: Ein Journalist für deutsche Politik gilt neuerdings auch als Fachmann für deutschen Fussball. Nicht die Fachkenntnis des Journalisten ist entscheidend, sondern sein Habitus beziehungsweise medialer Status – dazu gehört ein gewisser Tonfall.

Die Art und Weise, wie über Fussball geschrieben und gesprochen wird, lässt sich übersetzen auf die, wie über Politik geschrieben und gesprochen wird. Kaum eine Journalistin vermag die Zusammenhänge zwischen der Staatsverschuldung Griechenlands, der Weltwirtschaftskrise, dem Finanzkapitalismus und der Globalisierung wirklich zu verstehen. Und doch werden unzählige Analysen und Kommentare geschrieben, die den Anschein erwecken, als würden sie die tieferen Zusammenhänge durchleuchten. Simulierte Hellsichtigkeit. Möglich ist das, weil sich für jedes Gebiet im Lauf der Zeit ein kollektives Vokabular entwickelt hat, mit dessen vorgefertigten Textbausteinen sich mühelos eine (sprachliche) Logik herstellen lässt, auch wenn sie mit der komplexen Wirklichkeit nur wenig zu tun hat. Die Sprache schafft eine zweite, in sich geschlossene Wirklichkeit, und wer diese Sprachlogik und das dazugehörige Vokabular einigermassen beherrscht, ist im medialen Welterklärungsgeschäft mit dabei.

Übersetzt man die Sprachelaborate zurück, kommen oft Widersinnigkeiten heraus. Oder Binsenweisheiten. Es wird dringend empfohlen, Nullaussagen in expertenartige Sätze zu verkleiden. Allzu grosses Unwissen auf dem Feld der Fussballerei kaschiere man mit Begriffen wie «systemische Variabilität» oder «permanente Rotation». Überaus vorteilhaft wirkt zudem die exzessive Zuhilfenahme von Statistiken und Umfrageergebnissen. Und so fachsimpeln sie alle ganz und gar mühelos über Fussball und Politik und Wirtschaft. Und dann und wann über Astrophysik. Wir alle sind ExpertInnen für alles und jedes, kennen die Gründe, weshalb Spanien gewonnen hat, warum Griechenland in der Krise steckt und was den Kapitalismus im Innersten zusammenhält.

Das Leben ist eine Talkshow. Nur ja nicht schweigen.

Adrian Riklin ist WOZ-Redaktor.