Andalusien: Ein vielversprechender Auftakt, aber nicht ohne Misstöne
In der ersten spanischen Regionalwahl erhält die junge Linkspartei Podemos weniger Stimmen als erwartet. Dennoch ist das Ergebnis nicht schlecht, wenn man die Umstände betrachtet.
Vor einem Jahr hätte sich Rosa Gómez, eine 56-jährige Architektin aus Sevilla, über das Ergebnis der Regionalwahl vom vergangenen Sonntag sicher gefreut: Immerhin ist die rechte Volkspartei PP am Wochenende von 41 Prozent im Jahr 2012 auf jetzt knapp 27 Prozent abgestürzt. Und die sozialdemokratische PSOE hat die Wahl zwar gewonnen, erhielt mit 35 Prozent jedoch ihr bislang schlechtestes Ergebnis in Andalusien.
Dennoch steht Gómez die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben: Podemos («Wir können») erreichte 15 Prozent und kommt gemeinsam mit der Vereinten Linken (IU) auf nur knapp 22 Prozent. Das ist nicht genug, um das Zweiparteiensystem von PSOE und PP wirklich zu bedrohen. Und es ist bei weitem nicht genug, um – auf Anhieb und bei der ersten Wahlbeteiligung – die Regionalregierung zu übernehmen.
«Es gibt nichts zu feiern», sagt auch Teresa Rodríguez, die Spitzenkandidatin von Podemos Andalusien, am Abend der Wahl in Sevilla. Denn auch morgen würden wieder 45 andalusische Familien Opfer von Zwangsräumungen und übermorgen und überübermorgen, fügt sie hinzu. Tatsächlich ist das Wahlergebnis aber so schlecht nicht. Sicher, die Wahl wurde nicht gewonnen. Und man hat es auch nicht geschafft, die politische «Kaste» aus der Regierung zu werfen; PSOE und PP sind weiterhin die zwei stärksten Kräfte. Aber in nur einem Jahr fast 600 000 WählerInnen zu überzeugen, das ist durchaus bemerkenswert. Vor allem, wenn man die Umstände berücksichtigt, unter denen Podemos hier antrat.
Schlusslicht nach 33 Jahren PSOE
Andalusien ist eine sozialdemokratische Hochburg. Seit 1982, den ersten Wahlen nach Ende der franquistischen Diktatur, hat hier immer die PSOE regiert. Mit rund acht Millionen EinwohnerInnen ist die Region die bevölkerungsstärkste Spaniens – und auch eine der ärmsten. 36 Prozent der Erwerbsfähigen sind arbeitslos (bei den unter 25-Jährigen mehr als 60 Prozent). Die Hälfte derer, die noch Arbeit haben, verdient für eine Vollzeitstelle weniger als 1000 Euro brutto im Monat, gut ein Drittel erhält gerade mal den Mindestlohn von 645 Euro.
«Was muss in diesem Land noch passieren, damit die Leute endlich aufwachen?», fragt sich Isabel Vázquez, eine 55-jährige Gymnasiallehrerin. «Wie kann es sein, dass wir 33 Jahre lang dieselbe Partei wählen und nach wie vor das Schlusslicht Spaniens sind? Das bisschen Hilfe, das die Landarbeiter bekommen, kann doch nicht der Grund dafür sein.» Vázquez spielt auf die Agrarhilfe an, die die PSOE vor fast dreissig Jahren einführte: Wer zwanzig Tage im Jahr in der Landwirtschaft arbeitet, hat sechs Monate Anspruch auf monatlich 425 Euro staatliche Unterstützung.
Tatsächlich kommt diese Hilfe in erster Linie den GrossgrundbesitzerInnen zugute, die so immer über ErntearbeiterInnen verfügen. Aber nicht wenige Familien überleben derzeit mit dieser Hilfe und fürchten bei einem Regierungswechsel deren Abschaffung. Das kommt der PSOE zugute: Ein Grossteil ihrer WählerInnenschaft lebt auf dem Land, ist fünfzig Jahre und älter und stimmt aus Tradition für die «Sozialistische Arbeiterpartei», an deren Namen sie noch immer glaubt.
Hetzkampagne gegen Podemos
Dass Podemos am vergangenen Sonntag nicht die erhofften 25 oder 30 Prozent erreichte, ist sicher auch der Hetzkampagne der letzten Wochen geschuldet: Seit Januar (2015 ist ein entscheidendes Wahljahr) wirft die PSOE-PP-Medienmaschinerie zwei Podemos-Führungsmitgliedern – ungerechtfertigterweise – Steuerbetrug beziehungsweise unrechtmässigen Bezug eines staatlichen Stipendiums vor. Die Botschaft: Podemos ist nicht anders als andere Parteien. In einem Land, das täglich mit Korruptionsskandalen seiner PolitikerInnen konfrontiert ist, hat eine derartige Behauptung verheerende Auswirkungen. Warum eine Partei wählen, von der man kaum etwas weiss und deren Mitglieder sich letztendlich auch nicht anders verhalten?
Und schliesslich hat das «enttäuschende» Ergebnis der andalusischen Podemos-Fraktion vermutlich auch damit zu tun, dass diese deutlich radikaler auftritt als die Parteiführung in Madrid: Generalsekretär Pablo Iglesias möchte nicht nur die linke, sondern auch die zentrumsnahe und selbst die rechte WählerInnenschaft überzeugen. Er vermeidet Begriffe wie «Revolution» oder «Sozialismus», scheut sich nicht, Armee, Guardia Civil und Polizei hochleben zu lassen, und ist der Meinung, die Diskussion um Monarchie oder Republik interessiere derzeit niemanden. Die andalusische Kandidatin Rodríguez hat ihre politische Herkunft hingegen nie verleugnet. Und die liegt in der überwiegend trotzkistisch orientierten Antikapitalistischen Linken (IA).
Dringendste Massnahmen gefragt
Teresa Rodríguez kommt aus der ärmsten Stadt und Provinz in Andalusien. Nirgendwo sonst ist die Situation so alarmierend wie in Cádiz: Über 42 Prozent der Erwerbstätigen sind hier arbeitslos, 41 000 Familien haben keinerlei Einkünfte, 24 Prozent der insgesamt 1,2 Millionen EinwohnerInnen sind laut dem Hilfswerk Caritas sozial marginalisiert, die Lebensmittel- und Essensausgabestellen können den Ansturm kaum bewältigen.
Hier überzeugte das von Podemos vorgeschlagene 30-Punkte-Programm dringendster Massnahmen denn auch 28 Prozent der WählerInnen: Ausrufung eines Wohnraumnotstands und sofortiger Stopp aller Zwangsräumungen, Einrichtung neuer Suppenküchen, Übernahme der Wasser- und Stromkosten armer Familien. Priorität hätten in den ersten Regierungstagen ausserdem die Zahlung eines Pflegegelds und der Familienhilfe gehabt. Sozial verantwortliche Unternehmen wollte man unterstützen, ebenso den Ausbau erneuerbarer Energien und einer nachhaltigen Landwirtschaft. Und wenn nötig sollten ungenutzte Ländereien enteignet werden – eine Forderung, die die kämpferische Andalusische Arbeitergewerkschaft (SAT) seit Jahrzehnten erhebt.
Teresa Rodríguez wollte den SAT-Vorsitzenden Diego Cañamero für ihre Wahlliste gewinnen. Die Podemos-Führung in Madrid stellte sich jedoch dagegen: Cañamero ist zwar im ganzen Land bekannt, aber weitaus zu radikal, als dass man mit ihm Wahlen gewinnen könnte. Cañamero beendete die Diskussion zwischen Rodríguez und Madrid schliesslich selbst: Er lehnte den Wechsel von der Gewerkschaftsarbeit zur Politik ab. Hätte die PSOE die Wahl aber nicht überraschend um ein Jahr vorgezogen (mit der klaren Absicht, Podemos zu stoppen), wäre Pablo Iglesias vermutlich auf die Suche nach einer weniger radikalen Kandidatin oder einem weniger radikalen Kandidaten als Rodríguez gegangen, der oder die gar nicht auf die Idee gekommen wäre, jemanden wie Cañamero in die Liste aufzunehmen.
Diese Einmischung lässt inzwischen so manches Podemos-Mitglied an der basisdemokratischen Struktur zweifeln. Freilich nahm auf der Podemos-Generalversammlung im Oktober die absolute Mehrheit die von Pablo Iglesias vorgeschlagene Organisation der Partei mit einem Generalsekretär (ihm selbst) an und lehnte die von Teresa Rodríguez bevorzugte kollektive Dreierführung ab. Inzwischen aber schreckt die Führungsgruppe um Iglesias auch nicht davor zurück, in die für alle offenen Primärwahlen der KandidatInnen- und Wahllisten einzugreifen.
Die Regionalwahl in Andalusien war die erste Wahl, die dieses Jahr in Spanien stattfand. Im Mai sind Gemeinderatswahlen, an denen Podemos nicht als Partei, sondern im Verbund mit anderen Gruppierungen teilnimmt. Ende des Jahres findet schliesslich die spanische Parlamentswahl statt. Allen Umfragen zufolge hat Podemos hier nach wie vor gute Chancen, 25 Prozent der Stimmen zu erhalten.
Marsch der Würde : Mobilisierung gegen das neoliberale Diktat
Im August 2012 marschierten Mitglieder der Andalusischen Arbeitergewerkschaft (SAT) in Sevilla in zwei Supermärkte und beschlagnahmten mehrere Einkaufswagen voller Lebensmittel. Die Aktion zielte darauf ab, die Armut und die soziale Ausgrenzung in den Vordergrund zu rücken, von denen rund dreissig Prozent der AndalusierInnen betroffen sind. Das Ziel wurde erreicht: Über die Aktion berichteten alle nationalen und zahlreiche internationale Medien. Die SAT und ihr Vorsitzender Diego Cañamero wurden weit über die Grenzen Andalusiens bekannt, wo sie schon seit den siebziger Jahren für die Arbeiterklasse kämpfen – mit Landbesetzungen, Strassenblockaden, wochenlangen Protestmärschen oder Hungerstreiks.
2014 initiierte die SAT einen «Sternmarsch der Würde», um in Madrid «Arbeit, Brot und Wohnraum für alle» einzufordern. Mehr als 200 soziale Initiativen und Bewegungen sowie mehrere regionale und kleinere Parteien aus ganz Spanien schlossen sich dem Aufruf an, dem schliesslich mehrere Hunderttausend Menschen folgten (vgl. WOZ Nr. 13/2014 ).
So viele waren es bei der Wiederholung des Sternmarschs am letzten Samstag nicht. Dennoch kamen auch dieses Mal wieder Zehntausende DemonstrantInnen aus ganz Spanien zu Fuss, mit Bus oder Zug ins kalte und regnerische Madrid, um für ihre Würde, gegen Sozialkürzungen, Zwangsräumungen, hohe Arbeitslosigkeit und eine abgrundtief arrogante Regierung zu protestieren. Dass dieses Jahr nicht ganz so viele Menschen an der Demonstration teilnahmen, hat einen einfachen Grund: Mittlerweile können sie ihre Wut politisch kanalisieren – in den Podemos-Gruppen, die es inzwischen in jedem Stadtviertel, in jeder Kleinstadt und in fast jedem Dorf gibt.
Dorothea Wuhrer