Spanien: Ein unbeugsames Dorf in einer kapitalistischen Welt
Zahlreiche AndalusierInnen demonstrieren gegen den verordneten Sparkurs der spanischen Zentralregierung. Auch aus Marinaleda sind viele Menschen dabei – einem kleinen Ort, wo aus einem Traum ein Stück Wirklichkeit wurde.
Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel, um 12 Uhr herrschen schon fast vierzig Grad. Trotzdem sind 1200 AndalusierInnen gekommen, um auf dieser Etappe des «Arbeitermarsches» zwischen den Städten Dos Hermanas und Sevilla mitzumachen. «Qué habrá pasao? Qué habrá pasao? Qué Andalucía s’ha levantao!», rufen sie immer wieder im Chor und recken die Fäuste in die Höhe.
Tatsächlich scheint es, als begehre Andalusien auf. Zumindest die Menschen, die seit Mitte August mit der Klassengewerkschaft Sindicato Andaluz de Trabajadores (SAT) durch Andalusien marschieren – und damit gegen den Sparkurs der rechtskonservativen Zentralregierung in Madrid protestieren und von der sozialdemokratischen Regionalregierung mehr Unterstützung für die Landwirtschaft einfordern.
«Unterbrochen fest angestellt»
Noch zehn Kilometer bis Sevilla. María Martiñán schreit aus voller Kraft mit. Ihr Mann sei Beamter, erzählt sie mir. Sein Monatsgehalt sei um hundert Euro auf unter tausend Euro netto gekürzt worden; auch das Weihnachtsgeld habe man ihm gestrichen. Sie selbst verdient dieses Jahr gleich ein Drittel weniger. Martiñán arbeitet seit elf Jahren halbtags für ein privates Unternehmen und putzt Schulen. Auf ihrem Arbeitsvertrag steht «Fija discontinua». Das bedeutet in etwa «unterbrochen fest angestellt» – eine spanische Besonderheit: Ihr Vertrag läuft jährlich von Mitte September bis Mitte Juni. Damit spart sich die Firma während der Sommerferien ihr Gehalt und kann ausserdem problemlos die Konditionen verändern. In diesem Jahr hat sie Martiñáns Lohn von 624 auf 400 Euro monatlich gekürzt. «Und ich muss noch froh sein. Meine vier Kinder haben alle einen Hochschulabschluss und finden trotzdem keine Arbeit.» María Martiñán lebt mit ihrer Familie in Alcalá del Valle, einem Ort in der Provinz Cádiz. Gegen vierzig Prozent der Erwerbstätigen sind dort ohne Job, deshalb seien diesen Sommer mehr als 1000 der insgesamt 5300 EinwohnerInnen nach Frankreich gefahren, um dort in der Obsternte und Weinlese zu arbeiten. «Wir haben allen Grund zu demonstrieren!», sagt María Martiñán.
Das sehen auch viele EinwohnerInnen von Marinaleda so und sind gleich mit mehreren Bussen angereist, um an diesem Tag mitzumarschieren. Ihr Bürgermeister, Juan Manuel Sánchez Gordillo, ist aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei. Nach knapp einem Monat Fussmarsch und zahlreichen Interviews braucht der 63-Jährige eine Pause. Seit er am 7. August gemeinsam mit ein paar Dutzend SAT-Mitgliedern in zwei Filialen grosser Supermarktketten gezogen war und, ohne zu bezahlen, je zwölf Einkaufswagen mit Grundnahrungsmitteln mitnahm, wird der Mann mit dem grauen Bart und dem Palästinensertuch von nationalen und internationalen Medien belagert.
«Natürlich ging es bei der Aktion nicht um Diebstahl. Die grossen Supermärkte haben Schuld an der Verarmung kleiner Bauern. Sie sprechen die Preise untereinander ab mit dem Resultat, dass der Unterschied zwischen Ladenpreis und dem, was der Bauer erhält, bis zu 700 Prozent ausmacht. Ausserdem werfen sie jeden Tag tonnenweise Lebensmittel weg, während viele Leute in Andalusien Hunger leiden», verteidigt sich Bürgermeister Gordillo.
Seit 33 Jahren absolute Mehrheit
Marinaleda, ein kleiner Ort zwischen Sevilla und Córdoba, ist inzwischen ein Mythos, eine Art unbeugsames sozialistisches Dorf inmitten einer kapitalistischen Welt. Schon die Strassennamen deuten darauf hin, dass hier vieles anders ist: Allee der Freiheit, Ernesto-Che-Guevara-Strasse, Strasse der Brüderlichkeit, der Freiheit und so weiter. «Was wir wollen, ist ein anderes Wirtschaftsmodell», sagt Bürgermeister Gordillo, «wie man das nun nennen will – kommunistisch, sozialistisch, anarchistisch, utopisch –, das ist uns egal. Wir kämpfen für eine klassenlose Gesellschaft, in der die Produktionsmittel und die natürlichen Ressourcen dem Volk dienen und nicht einer privilegierten und egoistischen Minderheit.» Mit dieser Idee konnte Gordillo die 2700 EinwohnerInnen seines Dorfes überzeugen: Seit 33 Jahren wählen sie ihn und seine Gruppierung Arbeiterkollektiv / Linker Andalusischer Block (CUT-BAI) alle vier Jahre mit absoluter Mehrheit in den Gemeinderat.
Marinaleda war bis in die achtziger Jahre ein ausgesprochen armes Dorf, dessen EinwohnerInnen sich als TagelöhnerInnen kaum ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Andalusien ist eine Region der Grossgrundbesitzer: Zwei Prozent der Landwirte besitzen mehr als die Hälfte des Ackerlands. Das war schon vor dem Bürgerkrieg so und hat sich mit der Diktatur von 1939 bis 1975 noch verstärkt. Als Diktator Francisco Franco schliesslich gestorben war und Spanien sich langsam in Richtung Demokratie öffnete, gründeten andalusische Landarbeiterkommissionen 1976 die kämpferische Landarbeitergewerkschaft (SOC, die sich vor fünf Jahren in SAT umbenannte). Der damals 24-jährige Gordillo war zwar kein Landarbeiter, sondern Geschichtslehrer, schloss sich der Gewerkschaft aber dennoch an. Drei Jahre später wählte ihn Marinaleda zum ersten Mal zum Bürgermeister.
Umfassende Demokratie
In Marinaleda werden seither alle politischen Entscheidungen öffentlich diskutiert und gefällt. So wurde auch gemeinsam beschlossen, dass die Gemeinderatsmitglieder nicht entlohnt werden. «Politik darf kein Mittel sein, um sich zu bereichern. Da es um öffentliche Gelder und Entscheidungen geht, die das Leben aller betreffen, ist Ethik unentbehrlich», sagt Gordillo, «Solidarität predigt man nicht, man praktiziert sie!»
Als Gordillo 1979 erstmals gewählt wurde, waren in Marinaleda siebzig Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos. Da die meisten nur tageweise in der Landwirtschaft tätig waren, erhielten sie keine staatliche Unterstützung. Auf Anregung des Gemeinderats traten 1980 rund 700 EinwohnerInnen in einen Hungerstreik, um für TagelöhnerInnen Arbeitslosenhilfe zu fordern. Ein Erfolg: Die damalige sozialdemokratische Regierung (unter der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei, PSOE) gab dem Druck nach und führte 1984 in Andalusien eine Agrarhilfe ein, die auch arbeitslosen TagelöhnerInnen zugutekommt.
Aber eigentlich wollten die Menschen aus Marinaleda keine Almosen, sondern Arbeit. Und so kämpften sie weiter und besetzten Ländereien – vor allem die des grössten Grundbesitzers der Gegend, des Herzogs von El Infantado. Inzwischen gab es ein neues Gesetz, nach dem ein Teil der staatlich bewässerten Ländereien automatisch in öffentlichen Besitz übergehen sollte. Die BewohnerInnen von Marinaleda sorgten dafür, dass das Land des Herzogs staatlich bewässert wurde, was selbst dem Herzog gefiel. Dann übten sie Druck auf die Regierung aus, um gesetzesgemäss an das Land zu kommen: Sie blockierten Strassen, Bahnlinien und den Flughafen von Sevilla.
1991, ein Jahr vor der Weltausstellung in Sevilla, gab die Regionalregierung schliesslich klein bei, einigte sich mit dem Herzog und überliess den EinwohnerInnen von Marinaleda 1200 Hektaren Ackerfläche. Die Gemeinde gründete die Genossenschaft Humar-Marinaleda und baute auf dem Land Peperoni, Bohnen, Artischocken und Oliven an. Heute gehören zum Betrieb auch eine Konservenfabrik, eine Olivenölmühle, eine Schafzucht und mehrere Gewächshäuser für Tomaten und Salat. «Während der Erntezeiten haben wir bis zu 500 Beschäftigte», berichtet Yolanda Muñoz, Verwaltungsmitarbeiterin der Genossenschaft. Natürlich sei die Landwirtschaft manchmal von Dürre oder Überschwemmungen betroffen, fügt sie hinzu, dann beziehe man eben Arbeitslosengeld.
Bei Humar-Marinaleda haben alle denselben Lohn: 1128 Euro im Monat für 6,5 Stunden täglich auf dem Land oder 8 Stunden täglich in der Fabrik. Gewinne werden nicht ausgezahlt, sondern in mehr Arbeitsplätze investiert. Die Produkte werden zum Teil direkt an KonsumentInnen verkauft, zum Teil an andere Genossenschaften, die das Gemüse über ihre Läden vermarkten. Freilich spürten auch sie die Wirtschaftskrise, sagt Muñoz. Aber Langzeitarbeitslose gebe es in Marinaleda so gut wie keine.
Selbst gebautes Eigenheim
In den achtziger Jahren war auch der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ein grosses Problem. Deshalb kaufte oder enteignete der Gemeinderat Ackerland und klassifizierte die Grundstücke neu als Bauland. Zum Hausbau fehlte nun noch das Geld für die Baumaterialien. Also zogen die EinwohnerInnen wieder nach Sevilla und besetzten dort so lange das regionale Bauministerium, bis sie die Zusage hatten, dass die Regionalregierung die Kosten für die Materialien vorschiesst. Seither bauen die EinwohnerInnen – unter Aufsicht der ortseigenen Baufirma und einer Architektin – ihre Häuser selbst. 300 Reihenhäuser wurden bisher fertiggestellt. Für die Bereitstellung der Materialien bezahlen die BewohnerInnen monatlich fünfzehn Euro an die Regionalregierung zurück. Nach etwa siebzig Jahren wird das Haus Eigentum der BewohnerInnen – aber sie dürfen es nicht verkaufen, nur an ihre Kinder weitervererben. «So einfach beendet man die Spekulation um Boden und Wohnraum», sagt Gemeindearchitektin Pepa Domínguez.
Aber auch sonst investiert Marinaleda viel in soziale Infrastrukturen. Im ortseigenen Kinderhort kostet ein Platz nur zwölf Euro pro Monat, Essen inklusive. Das Dorf hat einen mobilen Betreuungsdienst für ältere EinwohnerInnen sowie einen Radio- und Fernsehsender. Eine Dorfpolizei gibt es nicht, denn die EinwohnerInnen beschlossen, dass eine solche unnötig sei. Das spart viel Geld, das für andere Projekte verwendet werden kann. Um das alles zu ermöglichen, legen die EinwohnerInnen ihre Steuern selbst fest und arbeiten ehrenamtlich in den Projekten mit.
Natürlich gibt es auch in Marinaleda Leute, die mit der Gemeindepolitik nicht einverstanden sind. So meint Juan Carmona von der PSOE, dass lediglich der Herrscher ausgetauscht worden sei: «Jetzt regiert hier nicht mehr ein Grossgrundbesitzer, sondern Gordillo.» Aber die Wahlergebnisse sprechen für den Bürgermeister: Seit 33 Jahren gewinnen er und seine CUT-BAI mit überragender Mehrheit jede Wahl. 2011, als in ganz Spanien die rechtskonservative Spanische Volkspartei (PP) die Gemeindewahlen gewann, stimmten in Marinaleda 73 Prozent der Wahlberechtigten für die CUT-BAI.
Spaniens Protestbewegungen : Aufruf zum Generalstreik am 26. September 2012
Rund 100 000 Menschen gingen am 15. September in Madrid auf die Strasse. Unter dem Motto «Sie wollen das Land ruinieren. Das müssen wir verhindern!» protestierten sie in Spaniens Hauptstadt gegen den Kahlschlag im Sozialsystem. Zur Demonstration hatten zwei grosse Gewerkschaften und 150 weitere Organisationen aufgerufen. Die rechtskonservative Regierung will bis 2014 65 Milliarden Euro einsparen – das ist der Preis für die 100 Milliarden Euro, die Brüssel zur Rettung der maroden spanischen Banken und Sparkassen bereitstellt.
Waren es im letzten Jahr noch vornehmlich junge Leute, die gegen die Sparmassnahmen demonstrierten, so sind jetzt viele Bevölkerungsschichten vertreten: Jugendliche und Rentner, Arbeiterinnen, Angestellte und Arbeitslose, Beschäftigte des öffentlichen Diensts, Krankenhaus- und Feuerwehrpersonal, Polizisten, Anwältinnen und Richter. Darunter sind viele, die vor nicht einmal einem Jahr mehrheitlich die Volkspartei PP gewählt haben. Seit Monaten halten die Proteste an, selbst während der traditionell ruhigen Sommermonate.
Vor allem die kämpferische andalusische Klassengewerkschaft SAT sorgte für Aufsehen: mit ihren Arbeitermärschen durch die ganze südspanische Region, mit der «Enteignung von Lebensmitteln» und mit symbolischen Besetzungen von Banken, Palästen und Supermärkten. Für die nächsten Tage hat SAT weitere Aktionen angekündigt.
Im Norden des Landes kämpfen die Bergarbeiter seit Monaten gegen die Streichung der staatlichen Subventionen für den Kohlebergbau. In Barcelona forderten in der letzten Woche rund 1,5 Millionen KatalanInnen die Unabhängigkeit ihrer Region. Am letzten Montag streikten Spaniens Bahn- und U-Bahn-Angestellte. Am 25. September wollen diverse Gruppierungen das Parlament in Madrid umzingeln. Und für den 26. September haben zwei baskische Gewerkschaften zu einem Generalstreik in ihrer Region aufgerufen.