Steuerstreit: Die Folgen einer verschwiegenen Neuauslegung
Muss die Schweiz bald jede gewünschte Information liefern, die ein anderer Staat über einen mutmasslichen Steuerhinterzieher einfordert? Auf jeden Fall wurden kürzlich die Standards für internationale Amtshilfe in diesem Sinn angepasst.
Das Witzige am Steuerstreit mit Deutschland ist: Das Theater wiederholt sich jedes Mal aufs Neue. Deutsche Steuerfahnder streuen Informationshappen, die Medien rätseln, die Banken dementieren, die PolitikerInnen jaulen, das Finanzdepartement in Bern beschwichtigt.
Dieses Mal ist es nicht anders. Aber die Chancen für die Schweiz, wenigstens noch einen kläglichen Rest Bankgeheimnis in die Zukunft zu retten, werden immer kleiner. Denn Mitte Juli hat die Schweiz im Rat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einer Neuauslegung der internationalen Standards zur Amtshilfe zugestimmt – vom Bundesrat verschwiegen und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt.
Die Anpassung, die der Buchautor und Finanzexperte Viktor Parma vor zwei Wochen in einem Artikel in der «SonntagsZeitung» erwähnte, ist äusserst brisant: Zwar muss auch in Zukunft ein «ersuchender Staat» (etwa Deutschland), der Informationen über mutmassliche SteuerhinterzieherInnen will, darlegen, warum er die gewünschten Angaben für «voraussichtlich relevant» hält. Im Zweifelsfall entscheidet aber nicht mehr der «ersuchte Staat» (also die Schweiz), ob die Informationen «voraussichtlich relevant» sind, sondern der «ersuchende Staat». Faktisch, so schreibt Parma, bedeute das, dass die Schweiz künftig «jede gewünschte Information liefern» müsse.
Schwarzgeld nach Asien?
Das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) bestätigt die Neuauslegung von Artikel 26 des OECD-Musterabkommens, hält aber fest, dass im Konfliktfall offene Fragen «im Rahmen einer Konsultation» geklärt würden. Die Neuauslegung sei nicht kommuniziert worden, «weil diese keine Änderung der rechtlichen Grundlagen erfordern, sondern die Durchführung der Amtshilfe betreffen» würde. Die Anpassung ist Teil der dauernden Weiterentwicklung des OECD-Musterabkommens auf finanzdiplomatischer Ebene. Vor dem Hintergrund des neu aufgeflammten Steuerstreits könnte dies vor allem für das Abkommen mit Deutschland bedeutsam werden, das ebenfalls auf dem OECD-Musterabkommen basiert. Denn auch der Verweis des SIF auf eine «Konsultation» ändert nichts am Kern der Neuinterpretation: der Kompetenzverschiebung zum anfragenden Staat.
Vier CDs mit Kontodaten mutmasslicher deutscher SteuerhinterzieherInnen sollen Fahnder aus dem deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen diesen Sommer gekauft haben. So berichteten deutsche Medien in den vergangenen Wochen. Zwei betroffene Banken sind bekannt: die Privatbank Coutts, eine Tochterfirma der britischen Royal Bank of Scotland mit Niederlassung in Zürich, und die Grossbank UBS. Beide Finanzinstitute bestreiten, dass ihnen Daten abhandengekommen seien – so wie man es von den Banken immer hört. Was an diesen Meldungen und Dementis wahr, was Propaganda und was bloss Hörensagen ist, wissen wohl nur die Steuerfahnder.
Richtig sei, so sagt einer, der mit den Ermittlungen vertraut ist, dass sich verschiedene Staatsanwaltschaften auf Verfahren vorbereiten. Die deutschen Steuerbehörden wollen zum einen SteuerbetrügerInnen überführen und (ihnen zustehende) Gelder einfordern. Zum anderen versuchen sie, Schweizer Banken die Beihilfe zu Steuerdelikten nachzuweisen. So vermeldete die «Financial Times Deutschland» diese Woche, die Steuerbehörden verfügten erstmals über «eine Papierspur nach Singapur». Unter den gekauften Daten befänden sich Unterlagen, die belegten, dass Schweizer Banken das kurz vor dem Abschluss stehende Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland gezielt umgingen und ihren KundInnen dabei behilflich seien, Schwarzgeld nach Asien zu verschieben. Ist das plausibel?
Bevor solche Steuerdaten an die Öffentlichkeit gelangen, liegen sie allerdings erst mal eine Weile rum. Im Fall der Credit Suisse zogen sich die Verhandlungen zwischen der ersten Kontaktaufnahme des Bankmitarbeiters und dem tatsächlichen Kauf durch die Behörden über zwei Jahre hin. Es kann also gut sein, dass die «Papierspur nach Singapur» existiert, aber schon ein paar Jahre alt ist.
Trotzdem: Nach dem erneuten Datenkauf steht das Steuerabkommen zwischen Deutschland und der Schweiz kurz vor dem Scheitern.
Gefährdetes Steuerabkommen
Der Druck steigt – auf beiden Seiten der Grenze. Während in der Schweiz Unterschriften für ein Referendum gesammelt werden (voraussichtliche Abstimmung am 25. November), muss das Abkommen in Deutschland noch immer vom Parlament abgesegnet werden. Der Bundesrat, die deutsche Länderkammer, hat das Abkommen im Juni bereits einmal abgelehnt und wird voraussichtlich auch nicht einlenken. Zu gross sind für die links regierten Bundesländer, die im Bundesrat die Mehrheit haben, die Schlupflöcher für SteuerbetrügerInnen.
Auch verschiedene Zeitungskommentatoren sprachen sich jüngst in Leitartikeln gegen das Steuerabkommen aus. Und selbst in der Schweiz setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass die Schweiz vielleicht «zu gut verhandelt» hat («Blick»). Zudem befindet sich Deutschland im Wahlkampf: Die SPD, die den Widerstand gegen das Steuerabkommen lautstark anführt, kann es sich kaum leisten, in letzter Sekunde doch noch einzuknicken.
Ein Scheitern des Abkommens wäre ein herber Rückschlag für Eveline Widmer-Schlumpf. Die Finanzministerin hat – entgegen den internationalen Entwicklungen in Richtung automatischer Informationsaustausch – stets auf die Strategie Abgeltungssteuer gesetzt (eine Idee übrigens, die von den Banken stammt, vom Freisinn propagiert und schliesslich vom Bundesrat übernommen wurde). Michael Ambühl, Widmer-Schlumpfs Mann für heikle Fälle, sagte kürzlich in der NZZ sogar, er glaube, «dass sich die Abgeltungssteuer dauerhaft als Alternative zum Informationsaustausch etablieren kann».
Die Neuauslegung des OECD-Musterabkommens, der die Schweiz am 17. Juli in Paris zugestimmt hat, könnte Widmer-Schlumpfs Strategie allerdings gefährden. Macht die Anpassung der internationalen Standards die bilateralen Steuerabkommen überflüssig? SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer hält das für eine «klare Überinterpretation». «Die neue Fassung wird zu einer Beschleunigung der Behandlung von Anfragen führen. Letztlich hat aber der Angefragte noch immer zu beurteilen, ob er die Information liefert oder nicht.» Auch der grüne Nationalrat Louis Schelbert geht nicht davon aus, dass die Schweiz wegen der Neuerung alle Kompetenzen abgeben wird.
Die SP-Finanzpolitikerin Margret Kiener Nellen sieht das etwas anders. Die Neuauslegung gehe zwar «nicht weiter als die bilateralen Steuerabkommen», nur deren Vollzug werde sich daran orientieren müssen. Die Anpassung zeige aber, «dass mit oder ohne Abgeltungssteuer der internationale Trend rasch in Richtung automatischer Informationsaustausch geht». Deshalb sei auch das Steuerabkommen mit Deutschland abzulehnen: Es ermögliche SteuerdelinquentInnen, abzuschleichen. Darüber hinaus würden sie auch noch mit Anonymität und «tiefen Ablasssteuern» belohnt: «Wenn Steuerbetrug keine Strafverfolgung mehr erfährt, stecken wir mitten in der Korruption.»
Mitarbeit: Viktor Parma