Automatischer Informationsaustausch: «Der Schutz der Privatsphäre ist kein absolutes Grundrecht»

Nr. 18 –

Der internationale Druck auf das Schweizer Bankgeheimnis steigt weiter. Gut so, findet SP-Nationalrat Roger Nordmann, dessen Partei mit der EU Gespräche über einen automatischen Informationsaustausch aufnehmen möchte. Der grüne Exnationalrat und heutige Datenschützer Hanspeter Thür warnt hingegen vor einer umfassenden Überwachungsmentalität.

Die Szene ist Symbol für die Realitätsverweigerung, die hierzulande herrscht: Am 19. März 2008 sagte der damalige Finanzminister Hans-Rudolf Merz vor dem Parlament mit erhobenem Zeigefinger: «Den Angreifern auf das schweizerische Bankgeheimnis kann ich voraussagen: An diesem Bankgeheimnis werdet ihr euch die Zähne ausbeissen.»

Ein Jahr später sah sich der Bundesrat unter internationalem Druck gezwungen, die Amtshilfe bei Steuerbetrug auf Steuerhinterziehung auszuweiten – später mussten neben Einzel- auch Gruppenanfragen zugelassen werden. Die Aufforderung, den automatischen Informationsaustausch (AIA) einzuführen, konterte Bern mit dem Angebot einer Abgeltungssteuer, die die Banken zugunsten anderer Staaten erheben sollten. Nach ersten Erfolgen brachte jedoch der deutsche Bundesrat ein entsprechendes Abkommen letzten Februar zu Fall. Seitdem kürzlich auch Luxemburg und Österreich auf den AIA eingeschwenkt sind, steigt der Druck aus Brüssel täglich.

Zudem haben auch die G20-Staaten kürzlich auf ihrem Gipfel den AIA zum künftigen Standard erklärt. Die OECD schmiedet bereits an konkreten Plänen.

Schliesslich hat der Bundesrat vergangenen Februar mit den USA das Fatca-Abkommen unterzeichnet – dem das Parlament noch zustimmen muss: Künftig sollen Schweizer Banken Daten von US-Steuerpflichtigen an die USA liefern. Kunden, die die Einwilligung verweigern, können von den USA durch Amtshilfe aufgespürt werden. Fatca tritt unabhängig vom Zustandekommen des Abkommens in Kraft, der Staatsvertrag dient lediglich einer vereinfachten Umsetzung. Banken, die sich nicht fügen, werden vom US-Markt ausgeschlossen.

WOZ: Roger Nordmann, die Schweiz hat das Fatca-Abkommen unterzeichnet, der Druck der G20 und der EU steigt, und selbst Banken und manche Bürgerliche scheinen sich mit dem automatischen Informationsaustausch abgefunden zu haben. Ihre Partei rennt offene Türen ein.
Roger Nordmann: Die Banken waren bei der Abschaffung des Bankgeheimnisses tatsächlich weit effektiver als die SP.

Braucht es Ihre Partei in dieser Frage überhaupt noch?
Nordmann: Wenn es um die Aufweichung des Bankgeheimnisses geht, hat die Schweiz stets gesagt: «Nie, nie, nie!» Nun bricht sie ein, weil sie mit dem Rücken zur Wand steht. Dabei verpasst sie es, die Zukunft mit ihren Nachbarn mitzugestalten. Das Fatca-Abkommen, das von der Schweiz faktisch die automatische Informationslieferung verlangt, wurde uns von den USA einseitig aufgezwungen. Fatca ist das Resultat einer imperialistischen Politik. Die SP verlangt dagegen eine proaktive Strategie, damit die Schweiz bei der Ausgestaltung des automatischen Informationsaustauschs mitreden kann. Unsere Fraktion hat eine Motion eingereicht, die Verhandlungen mit der EU verlangt.

Warum braucht es den automatischen Informationsaustausch?
Nordmann: Weil sich die Finanzmärkte globalisiert haben. Sie können heute Ihr Geld mit einem Mausklick ans andere Ende der Welt verschieben. Die Steuern werden dagegen von nationalen Steuerämtern eingetrieben, die keine Informationen über diese Finanzflüsse haben. Sie haben zusehends Mühe, die Steuern einzutreiben. Es herrschen ungleich lange Spiesse. Wenn es den Wohlhabenden möglich ist, ihre Vermögen in der Welt herumzuschieben, muss es dem Fiskus ebenso möglich sein, überall an die entsprechenden Daten zu gelangen. Sonst bezahlen die ehrlichen Steuerzahler die Zeche. Damit wird der Zusammenhalt der Gesellschaften gefährdet.

Die Banken- und Wirtschaftskrise hat ganz Europa in die Schulden getrieben. Nun muss auch die Schweiz ihren Beitrag leisten, damit die Staaten zu ihren Steuereinnahmen kommen. In Südeuropa ist die Lage sehr ernst.

Herr Thür, gegenüber dem «Schweizer Monat» sagten Sie: «Ich stehe zu hundert Prozent hinter dem Bankgeheimnis.» Ist es nicht das Recht jedes Staats, sich die Informationen zu beschaffen, um Steuern einzutreiben?
Hanspeter Thür: Ich habe nie gesagt, dass ich zu hundert Prozent hinter jenem Bankgeheimnis stehe, wie es heute verstanden wird! Bei jeder Gelegenheit kritisiere ich all jene Bürgerlichen und Banken, die aus dem Bankgeheimnis ein Steuerhinterziehungsgeheimnis gemacht haben – Datenschutz ist nicht Täterschutz. Sie haben damit das Grundrecht auf Privatsphäre pervertiert. Gleichzeitig sage ich: Der automatische Informationsaustausch ist der falsche Weg, um die Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Damit versucht man, diesen Missstand aus der Welt zu schaffen, indem man dem Staat alles erlaubt. Damit werden Grundrechte ausgehebelt.

Was oft untergeht: Wir sprechen nicht über die Schweiz, sondern über andere Staaten. Sollten diese nicht selber entscheiden können, welche Informationen sie sich über ihre Steuerpflichtigen beschaffen wollen?
Thür: Halt! Auf Schweizer Territorium gilt Schweizer Recht. Auch die hiesigen Bankkonten unterliegen der Hoheit des Schweizer Staats. Wenn ein anderer Staat etwas an diesem Recht ändern will, muss er dies mit der Schweiz aushandeln.

Lässt sich die Auslieferung von Kontodaten an einen anderen Staat nicht mit jener eines mutmasslichen Straftäters vergleichen?
Thür: Nein, eine Auslieferung erfolgt hier nicht automatisch. Der andere Staat hat ein Rechtshilfegesuch zu stellen, dem ein rechtsstaatliches Verfahren folgt. Ich muss diesbezüglich auch Roger Nordmanns Aussage zu Fatca widersprechen: Die Auslieferung von Daten an die USA erfolgt in diesem Fall gerade nicht automatisch. US-Bürger können sich weigern, ihrer Schweizer Bank die Erlaubnis zu erteilen, Kontodaten an den US-Fiskus zu liefern. Der US-Staat kann dann ein Rechtshilfegesuch stellen, in dem er begründet, weshalb die Informationslieferung gerechtfertigt ist. Und letztlich werden Schweizer Gerichte entscheiden, ob ein Rechtshilfegesuch bejaht wird.

Nordmann: Faktisch läuft das doch auf einen Automatismus hinaus. Der Betroffene wird kaum verhindern können, dass die Daten geliefert werden.

Thür: Nein, das Verfahren gründet in einem Rechtshilfegesuch, über das hiesige Gerichte befinden, und der Betroffene erhält die Möglichkeit, sich vor Gericht zu wehren.

Herr Nordmann, bei der Abstimmung über das Fatca-Abkommen fällt Ihrer Partei eine Schlüsselrolle zu. Wird die SP Ja stimmen?
Nordmann: Das haben wir noch nicht entschieden, wir müssen erst die Details prüfen.

Üblicherweise geht die Linke auf die Barrikaden, wenn der Staat in den Angelegenheiten seiner Bürgerinnen und Bürger schnüffelt und Grundrechte verletzt. Heiligt in diesem Fall der Zweck die Mittel?
Nordmann: Nein. Der Schutz der Privatsphäre ist ein Grundrecht, aber nicht ein absolutes. Er muss gegen andere öffentliche Interessen abgewogen werden. Ein solches Interesse ist die lückenlose Eintreibung der Steuern. Um ein Grundrecht einzuschränken, braucht es eine gesetzliche Grundlage, und die Einschränkung zur Erfüllung des Zwecks muss so klein wie möglich sein. Die Schweizer Steuerämter erhalten auch sämtliche Lohnausweise der Arbeitnehmer. Wieso sollen die Angestellten und deren Lohneinkommen strenger überwacht werden als die Wohlhabenden und deren Vermögen?! Dafür habe ich null Verständnis.

Hanspeter Thür, wird in der bürgerlichen Gesellschaft das Eigentum der Vermögenden besser geschützt als das der Lohnbezüger?
Thür: Der Vergleich hinkt. Nicht der Arbeitgeber schickt den Lohnausweis an den Fiskus, sondern der Arbeitnehmer mit seiner Steuererklärung.

Nordmann: Im Kanton Waadt, wo ich wohne, ist aber genau das der Fall. Für meine Putzfrau muss ich ein Exemplar des Lohnausweises direkt an das Steueramt schicken.

Thür: Das ist jedoch die Ausnahme. Wir sind uns aber einig, dass das Bankgeheimnis keine Steuerhinterziehung decken darf. Die Frage ist nur, wie dieser Missbrauch zu bekämpfen ist. Ich bin überzeugt, dass es andere Mittel gibt, die nicht jeden Bürger des Steuerbetrugs verdächtigen.

Sie denken neben dem Fatca-Modell wohl auch an die Abgeltungssteuer. Nach Deutschlands Nein ist diese faktisch vom Tisch.
Thür: Ich glaube tatsächlich, dass man mit einer scharfen Abgeltungssteuer das gleiche Ziel wie mit dem automatischen Informationsaustausch erreichen könnte. Es ist einfach herauszufinden, wer aus welchem Land in der Schweiz ein Konto hat. Auf dieses Konto könnte man eine scharfe Steuer erheben.

Nordmann: Die Abgeltungssteuer hat lediglich einen Satz von 30, 35 Prozent …

Thür: Er könnte auch 40 oder 50 Prozent betragen, das ist doch Verhandlungssache.

Nordmann: Im Abkommen mit Deutschland wollte man aber einen solch hohen Steuersatz genau nicht.

Herr Thür, der Staat gelangt mit dem automatischen Informationsaustausch an Daten, auf die er ohnehin Anrecht hat. Ist das wirklich so problematisch?
Thür: Beim Thema der Sozialhilfe stellt sich die Linke konsequent auf den Standpunkt, dass zur Bekämpfung des Missbrauchs nicht alle Sozialhilfeempfänger unter Verdacht gestellt werden dürfen. Umgekehrt verlangt die Rechte in dieser Frage die vollständige Transparenz. Die jeweiligen Positionen der Linken und Rechten schwanken je nach politischem Gegenstand. Das ist kein konsequentes Grundrechtsverständnis.

Nordmann: Ich weiss nicht, von welcher Linken Sie sprechen. Mein Parteikollege Pierre-Yves Maillard, der in meinem Kanton Vorsteher des Sozialdepartements ist, hat die Kontrolle der Sozialhilfeempfänger drastisch verschärft. Ich finde das richtig. Man muss den Missbrauch bekämpfen, um so den politischen Rückhalt für die Sozialhilfe zu stärken.

Während Steuerbetrügerinnen und Steuerbetrüger Deckung durch das Bankgeheimnis geniessen, müssen Sozialhilfeempfänger seit Jahren immer mehr Kontrollen über sich ergehen lassen.
Thür: Ja, natürlich – allerdings keinen automatischen Informationsaustausch.

Insofern sind die Opposition der Linken gegen die Durchleuchtung der Sozialhilfeempfänger und ihr Kampf gegen das Bankgeheimnis der Versuch, dieses Missverhältnis zu korrigieren.
Thür: Ich stelle nur fest, dass in der Frage der Grundrechte ein Gegensatz besteht. Für die Bürgerlichen beschränkt sich die Privatsphäre auf die kleine Brieftasche, die hinten rechts in ihrer Hosentasche steckt. Gleichzeitig verlangen sie bei der Sozialhilfe totale Transparenz, ohne die persönliche Würde der Sozialhilfeempfänger zu respektieren. Die Linke hat sich aus meiner Sicht zu Recht gegen diese übermässige Überwachung und Freigabe persönlicher Daten gewehrt. Wenn die Linke nun jedoch die Privatsphäre beim Eigentum weniger respektiert, wird sie in anderen Bereichen, etwa bei der Sozialhilfe oder der Polizeiüberwachung, nicht mehr glaubwürdig argumentieren können.

Der Zürcher Datenschutzbeauftragte Bruno Baeriswyl sagte gegenüber der WOZ (siehe WOZ Nr. 20/12) , dass aus Sicht des Datenschutzes die Finanzdaten nicht unter die «besonders schützenswerten Informationen» fallen würden, wie etwa solche zur Gesundheit.
Thür: Das ist ein Verfassungsverständnis, das ich nicht teile. Die Verfassung kennt keine Hierarchie der Grundrechte. In Europas bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts war auch der Schutz des Eigentums gegenüber dem absoluten Staat von Bedeutung. Dabei ging es um die Entfaltung des Individuums.

Geht es Ihnen ums Prinzip, oder sehen Sie auch konkrete Gefahren?
Thür: Einerseits geht es mir ums Prinzip: Ich bin der Auffassung, dass sich jeder Staat durch eine Rechtsordnung selbst beschränken muss, um die Freiheit seiner Bürger zu bewahren. Doch ich sehe auch Gefahren: In Europa sind alle Staaten formal gesehen Demokratien, doch Deutschland etwa ist relativ autoritär strukturiert …

Nordmann: Wie bitte?! Deutschland soll autoritär strukturiert sein?

Thür: Ich zitiere den Schweizer Botschafter in Berlin, Tim Guldimann, der kürzlich in einem Interview sagte, Deutschlands Behörden hätten ein «obrigkeitsstaatliches Gebaren». Das Staatsverständnis etwa von Deutschland oder Frankreich, auch wenn beides verfasste Demokratien sind, unterscheidet sich von jenem des direktdemokratischen Bürgerstaats der Schweiz. Ganz zu schweigen von jenem von Nicht-EU-Ländern, die keine Demokratien sind. Dass solche Staaten Datenbestände, die ihnen zur Verfügung stehen, auch für andere Zwecke als die vorgesehenen verwenden könnten, ist nicht auszuschliessen.

Nordmann: Da staune ich schon … Zumindest die Mitgliedstaaten der EU sind alles Demokratien, die die Grund- und Verfahrensrechte garantieren. Derzeit gibt es ein einziges grösseres Problem: Ungarn. Dessen Regierung verfolgt einen aggressiven nationalistischen Kurs. Ein Abkommen über den automatischen Informationsaustausch müsste für solche Fälle die Möglichkeit vorsehen, suspendiert werden zu können.

Herr Thür, neigen wir nicht etwas schnell zum Reflex, an Napoleon oder Bismarck zu erinnern, um die jeweiligen Staaten zu charakterisieren? Die liberalen USA haben in den letzten Jahren die Grundrechte am stärksten ausgehöhlt.
Thür: Richtig. Auch mit den USA könnte allerdings dereinst ein automatischer Informationsaustausch ausgehandelt werden. Ich glaube nicht, dass man das gross ausführen muss: Die USA haben eine Überwachungshysterie entwickelt, die mir Sorgen bereitet.

Herr Nordmann, nun, da der automatische Informationsaustausch ohnehin kommt, könnten Sie sich doch in Hanspeter Thürs Rolle versetzen: Was ist zu tun, um dem Datenschutz so gut wie möglich gerecht zu werden?
Nordmann: Zur Durchsetzung des automatischen Informationsaustauschs braucht es eine schweizerische Gesetzesgrundlage und ein multilaterales Abkommen, an dem sich nur Rechtsstaaten beteiligen. Zudem muss jedes Abkommen die erwähnte Möglichkeit vorsehen, suspendiert werden zu können. Eine wichtige Frage ist, welche Daten ausgetauscht werden: Informationen über Ausgaben sind auszuschliessen. Notwendig sind Angaben zum Total der Einkommen, zum Kontostand und dessen Erträgen, zu den Vermögenswerten im Bankdepot und deren Erträgen. Zudem müssten auch die wirtschaftlich Berechtigten hinter Trusts offengelegt werden. Zentral ist auch die Frage, wo die Daten gelagert werden sollen. Ich könnte mir vorstellen, dass diese in der Schweiz bleiben und lediglich von aussen abgerufen werden könnten. Zu prüfen wäre auch ein System, in dem Daten ausgetauscht werden, die Staaten jedoch ein Gesuch stellen müssten, um diese rechtlich zu verwenden. Es gibt also zahlreiche Fragen, an denen zu feilen ist.

Herr Thür, ist Ihnen das genug?
Thür: Ich bin froh zu sehen, dass jetzt, wo der Pulverdampf sich langsam verflüchtigt, auch die datenschutzrechtliche Problemlage erkannt wird. Bisher habe ich immer nur das Mantra gehört, wonach die Schweiz den Wünschen des Auslands nachkommen müsse. Die Frage, mit welchen Staaten man Daten automatisch auszutauschen bereit ist, scheint mir zentral. Auch die genaue Definition der auszutauschenden Daten ist wichtig, und die Überlegung, diese in der Schweiz zu lagern, ist zu verfolgen. Die Handhabung von Flugpassagierdaten folgt demselben Modell. Mit solchen Massnahmen würde zumindest ein Rest an Privatsphäre erhalten.

Wichtig ist aber auch, dass man in der Schweiz nicht der naiven Vorstellung verfällt, die anderen Staaten hätten das Gemeinwohl im Blick. Das sage ich nun nicht als Datenschützer, sondern als Bürger: Gerade Staaten wie die USA, die den automatischen Informationsaustausch propagieren, unterhalten selbst grosse Offshore-Finanzplätze. Und sie wehren sich gegen die Offenlegung von Trusts, von denen ihre Finanzindustrie profitiert.

Herr Nordmann, wird die Diskussion über den Datenschutz SP-intern geführt?
Nordmann: Ja. Nicht zuletzt zur Verteidigung des Datenschutzes muss die Schweiz nun in der Diskussion vorangehen, bevor irgendwelche internationalen Standards ohne uns definiert werden.


Die Diskussion wird in der OECD geführt, an der die Schweiz sich beteiligt, aber vor allem auch in der EU, in der die Schweiz kaum mitreden kann. Viel mitzudefinieren gibt es da nicht.
Nordmann: Wir müssen die Diskussion vor allem mit der EU aufnehmen, wo wir mit gewissen Staaten Allianzen schmieden sollten: Die EU ist eine viel stärkere Organisation als die OECD. Und in ihr haben die USA, die tatsächlich eigene Interessen verfolgen, nichts zu sagen. Die Frage, ob wir den automatischen Informationsaustausch mit Japan, Singapur, China oder den USA beschliessen sollen – die wird viel später kommen.

Was ist mit den Ländern der Südhalbkugel? Sie hätten das Geld am dringendsten nötig. Doch die SP lässt sich vor allem auf Staaten ein, die genug Drohpotenzial haben.
Nordmann: Moment. Zum einen sind die Länder in Südeuropa nicht gerade in einer starken Verfassung. Und zum anderen ist die SP auch für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung in Drittweltländern …

Davon ist aber wenig zu hören.
Nordmann: Die SP hat sich wiederholt für die Idee starkgemacht, mit Drittweltländern, die ein schwaches Rechtssystem haben, Abgeltungssteuern auszuhandeln. Das Problem ist: Für den automatischen Informationsaustausch mit der EU zeichnet sich in der Schweiz eine Mehrheit ab, nicht aber für die weiter gehende Bekämpfung der Steuerhinterziehung in Drittweltländern. Das ist Machtpolitik.

Hanspeter Thür, was halten Sie von einer Abgeltungssteuer für die Länder des Südens?
Thür: Dass die SP für diese eine Abgeltungssteuer in Betracht zieht, zeigt, dass die Partei sie für ein funktionierendes Mittel hält. Zudem wird damit deutlich, dass die Abgeltungssteuer nicht nur aus Sicht des Datenschutzes dem automatischen Informationsaustausch überlegen ist. Sie ist auch viel breiter anwendbar. Mit dem automatischen Informationsaustausch werden Singapur, China oder Russland aussen vor bleiben, weil wir diesen Automatismus mit solchen Staaten ja hoffentlich nicht wollen. Und sie können Gift darauf nehmen, dass die Gelder hiesiger Offshore-Plätze Richtung Osten fliessen werden. Damit wird nichts gewonnen.

Nordmann: Wäre die Schweiz vor fünfzehn Jahren mit der Abgeltungssteuer gekommen, hätte sie dazu beitragen können, dass sich dieses System durchsetzt. Doch dann hat die Schweiz die Abgeltungssteuer im letzten Moment als Sabotagemassnahme eingebracht – mit tiefen Steuersätzen und Schlupflöchern. Kein Wunder, hat Deutschland das Abkommen abgelehnt. Der Zug ist abgefahren.

Thür: Ich hätte kein Problem, wenn Sie den automatischen Informationsaustausch als letzten gangbaren Weg bezeichnen würden. Ich habe jedoch den Eindruck, dass die Linke den automatischen Informationsaustausch regelrecht herbeisehnt. Sie haben wohl recht: Die Schweiz hat die Gelegenheit verpasst, nun wird der automatische Informationsaustausch kommen. Das hindert mich als Datenschützer aber nicht daran, meine Bedenken zu äussern.

Nordmann: Ich finde auch, dass es Ihre Aufgabe ist, diese Bedenken in die Öffentlichkeit zu tragen.

Nun werden Sie etwas gar harmonisch!
Thür: Was Herr Nordmann zuletzt gesagt hat, würde ich aber gerne im Interview lesen!

Herr Nordmann, das Bankgeheimnis schützt auch hiesige Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher. Hat die SP dieses Thema beiseitegelegt, weil sie weiss, dass mit dem Informationsaustausch das Bankgeheimnis auch im Inland fallen wird?
Nordmann: Unsere Position ist klar: Die Banken sollten die Konto- und Depotangaben direkt den Schweizer Steuerbehörden liefern. Für den ehrlichen Bürger, der die Steuerdaten ohnehin dem Fiskus abliefert, ändert sich damit nichts. Sobald der automatische Informationsaustausch mit den Nachbarstaaten kommt, wird es zur absurden Situation kommen, dass hiesige Banken mit dem ausländischen Fiskus kooperativer wären als mit dem inländischen. Die Schweiz wird das Bankgeheimnis im Inneren des Lands nicht aufrechterhalten können. Und das ist gut so, auch hierzulande werden Steuern hinterzogen.

Herr Thür, was halten Sie davon, das Bankgeheimnis auch im Inland aufzuheben?
Thür: Wenn das Bankgeheimnis die Steuerhinterziehung gegenüber ausländischen Steuerämtern nicht mehr deckt, muss das Gleiche auch gegenüber den eigenen Steuerämtern gelten. Das scheint mir logisch.

Sie haben hier aber dieselben Bedenken.
Thür: Ja. Diese folgen meiner Grundauffassung, dass der Staat nur so viele Daten erhalten soll, wie er zur Erfüllung seiner Aufgaben unbedingt braucht. Es soll mir jemand erklären, was an dieser Abgeltungssteuer, die wir in der Schweiz seit Jahrzehnten praktizieren, nicht gut ist.

Nordmann: Für jene Bereiche, die ihr unterstellt sind, war sie erfolgreich. Wenn Sie jedoch etwa Optionen in Ihrem Portfolio haben, sind diese nicht betroffen. Zudem gilt sie nur für Erträge und nicht für Vermögen. Für die Vermögen gilt die Erbschaftssteuer, die zum Glück nicht von allen Kantonen abgeschafft wurde.

Thür: Es wird immer Steuerhinterziehung geben. Sie werden auch mit dem schärfsten Strafrecht nicht alle Verbrechen aus der Welt räumen. Wir müssen aufpassen, dass die Idee, wir müssten alles Übel in der Welt radikal ausmerzen, uns nicht zu einer Überwachungsmentalität verleitet. Diese führt in eine totalitäre Welt.

Nordmann: Im Grundsatz bin ich mit Ihnen einverstanden. Doch mit dem Bankgeheimnis sind wir heute beim anderen Extrem: Es ist einfacher, Steuern zu hinterziehen, als die Steuerhinterziehung zu bekämpfen.

Die Gesprächspartner

Roger Nordmann (40) ist seit 2004 SP-Nationalrat aus dem Kanton Waadt. Der studierte Ökonom und Politikwissenschaftler unterhält seit 1998 ein eigenes Büro für Politik- und Wirtschaftsberatung.

Hanspeter Thür (63) ist seit 2001 Eidgenössischer Datenschutzbeauftragter. Der Jurist sass zwischen 1987 und 1999 für die Grüne Partei im Nationalrat. In dieser Zeit war er unter anderem Fraktionsvorsitzender und später Parteipräsident der Grünen.