Windkraft: Herzig in die Energiewende

Nr. 38 –

Architekten aus Amsterdam entwickeln Windbäume mit Rotorenästen: Wenn sich ihre Ideen durchsetzen, wird die Zukunft der Windindustrie kleinteilig, dezentral – und sogar schön anzusehen.

Etwas weniger effektiv, aber schöner: «Entscheidend ist, dass die Dinger sexy aussehen», sagt Windbaumerfinder Kamiel Klaasse. Foto: NL Architects

Gemächlich fährt eine Frau auf dem Velo an einem Flüsschen entlang. Im Hintergrund erhebt sich die Skyline einer Grossstadt. Bäume spenden Schatten. Doch es sind keine gewöhnlichen Weiden, Erlen oder Eschen. An ihren schlanken Ästen prangen spindelförmige Gebilde, die sich im Wind drehen: sogenannte Eddys. Die Bäume sind aus Stahl und produzieren Strom.

Die geheimnisvolle Windkraftvegetation aus Holland existiert bis anhin erst als Computeranimation – und wächst ihren Erfindern dennoch bereits über den Kopf. «Es ist unglaublich», sagt Kamiel Klaasse – Mitte vierzig, schwarzes T-Shirt, Fünftagebart – vom Architekturbüro NL Architects in Amsterdam. «Alle wollen unsere Windkraftbäume bestellen.» Sogar aus Mexiko, Nordafrika und dem Iran kamen bereits Anfragen. Nicht nur, dass sich viele umweltbewegte UnternehmerInnen einen Windkraftbaum aufs Firmendach stellen wollen. «Unlängst rief ein Ingenieur aus Marokko an und wollte mit unseren Bäumen die Wüste aufforsten.»

An einigen technischen Details tüfteln die Erfinder noch. Doch spätestens im Dezember wollen Klaasse und seine Kollegen den ersten Prototyp bauen: mehr als zehn Meter hoch und mit drei Eddy-Rotoren von je 180 Zentimetern Länge bestückt. Danach ist eine üppigere Serienausführung geplant: ein 33 Meter hohes Stahlgewächs mit zwölf grösseren Eddys. Bei gutem Wind kann ein solcher Windkraftbaum genügend Strom für mehr als sechzig Haushalte erzeugen. «Egal wie riesig Windkraftanlagen sind», sagt Kamiel Klaasse, «entscheidend ist, dass die Dinger sexy aussehen.»

Technisch schwierig zu verwirklichen

Ein Ansatz, der wie ein Befreiungsschlag wirken könnte. Zwar kletterten gerade in Deutschland die Sympathiewerte für den Atomausstieg seit der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Rekordhöhe. Nach einem Beschluss der deutschen Regierung sollen erneuerbare Energien, die derzeit rund zwanzig Prozent des Strombedarfs decken, im Jahr 2030 die Hälfte des Stroms liefern – in erster Linie mit Windenergie. Doch für viele Menschen ist es eine Horrorvorstellung, dass künftig noch mehr Wiesen und Felder mit riesigen, unattraktiven «Windspargeln» verbaut werden könnten. «Eine brutalere Zerstörung der Landschaft, als sie mit Windkrafträdern zu spicken und zu verriegeln», schrieb der Dramatiker Botho Strauss bereits 2004, «hat zuvor keine Phase der Industrialisierung verursacht.»

Kamiel Klaasse und seine Kollegen zeigen eine Alternative auf. «Die Entwürfe von NL Architects sehen in der Tat faszinierend aus», sagt der Windkraftexperte Norman Pieniak vom Reiner-Lemoine-Institut zur Erforschung erneuerbarer Energien in Berlin. «So etwas habe selbst ich bisher noch nie gesehen.» In öffentlichen Parks etwa könnte er sich Windkraftbäume gut vorstellen. Die Bäume auf Flachdächern zu platzieren, hält der Windkraftforscher ebenfalls für eine interessante Idee.

Solche Anlagen zu bauen, sei allerdings mit hohen technischen Anforderungen verbunden, betont Pieniak: Die Nahtstellen etwa, wo die Äste aus dem Stamm herauswachsen, seien für Risse und Sprünge prädestiniert. Und da sich bei solchen Bäumen mehrere Rotoren an einem Träger drehen, könnten sich deren Vibrationen gegenseitig hochschaukeln – «im Extremfall bis zum Zusammenbruch der Konstruktion».

In der Tat beeinflussen die Vibrationen der einzelnen Eddys einander gegenseitig, räumt Klaasse ein. «Wir haben das anfangs etwas unterschätzt.» Er hebt ein fünfzig Zentimeter hohes Kunststoffmodell eines Windkraftbaums aus einem Glaskasten und stellt ihn auf seinen Schreibtisch. Als er einen Ventilator in die Nähe bringt, beginnen sich die Eddys zu drehen. Sie rotieren immer schneller, und der Baum beginnt bedrohlich zu zittern. Ingenieure und Physiker, die NL Architects bei technischen Fragen beraten, suchen nach Lösungen. Vielleicht müssten Stamm und Äste dicker als geplant konstruiert werden, sagt Klaasse. Es sei aber auch denkbar, dass es die Vibrationen bereits genügend stark dämpft, wenn der Baumstamm mit Sand gefüllt wird.

Weniger effizient, dafür leise

Gegenüber klassischen Windkraftgrossanlagen wirken die geplanten Windkraftbäume herzig: Allein der Mast eines klassischen Windspargels ist bis zu hundert Metern hoch. Mit ihrem riesigen, dreiflügligen Rotor produzieren solche Anlagen bei gutem Wind zwischen 1500 und 3000 Kilowatt Strom und können bis zu 2000 Haushalte versorgen. Doch seit um die Jahrtausendwende weite Teile Norddeutschlands mit solchen Giganten gespickt wurden, formiert sich Widerstand.

Manche PolitikerInnen fordern daher einen Ausbau der Offshore-Windkraft. Weit draussen vor der Küste werden dabei noch höhere Masten mit Dreiflügelrotoren im Meeresboden verankert. Aufgrund der Erdkrümmung sind sie im Idealfall vom Ufer aus nicht mehr zu sehen. Doch bei der Installation und Wartung solcher Anlagen gibt es grosse Probleme. Durch die extremen Bedingungen auf dem Meer kommt es zu erhöhtem Verschleiss. Und technisch aufwendige, teure Leitungen müssen gelegt werden, um den Strom zu den VerbraucherInnen zu führen. NL Architects zielen auf das Gegenteil ab. «Wir wollen die Windmühlen näher an die Häuser und Wohnungen heranholen», sagt Klaasse. Die Rotorenbäume aus Amsterdam sollen Städte und Dörfer schmücken.

Das Problem: Der Wirkungsgrad von Eddy-Rotoren ist um bis zu fünfzig Prozent niedriger als derjenige herkömmlicher Rotoren in vergleichbarer Grösse. Manche ExpertInnen sehen diese Stahlgewächse daher in erster Linie als Kunstwerke. Als Kunstwerke, die nebenbei auch Energie produzieren.

Kamiel Klaasse weiss um das Effizienzproblem. «Wir haben uns dennoch bewusst für die Variante mit den Eddys entschieden», sagt der Architekt: Rotoren klassischer Windkraftanlagen, sogenannte Horizontalachser mit drei Flügeln, seien zwar leistungsstärker. Man müsse aber sehr viel Abstand zwischen ihnen lassen, weil sie sich sonst gegenseitig den Wind wegnähmen. Rotoren mit vertikaler Achse hingegen, wie die spindelförmigen Eddys, lassen sich dichter staffeln. Darüber hinaus sind sie deutlich leiser als die herkömmlichen Dreiflügler.

Ein Windkraftbaum mit zwölf grossen Eddys von vier Metern Länge kann eine Leistung von 48 Kilowatt erreichen. Das würde zumindest genügen, um in einer Siedlung mehr als sechzig Haushalte mit Strom zu versorgen. Bei einem diskreten Geräuschpegel von nur rund 49 Dezibel – nicht lauter als ein Kühlschrank.

Etwa zehn Meter Abstand sind aber auch zwischen den einzelnen Eddys nötig, erläutert Klaasse. Und nur wenn sie höhenversetzt montiert werden, arbeiten sie optimal: Das macht die Windkraftbäume optisch interessant – und voluminös. Der Zwölf-Eddy-Baum wird 33 Meter hoch werden und zwanzig Meter breit. Zu gross also für manchen Schrebergarten.

Der «Tower of Power»

Rund 60 000 Franken werden in den Bau des ersten Prototyps mit drei Eddys fliessen, schätzt Klaasse. Bei grösseren Stückzahlen rechnet er auch für die 33 Meter hohe Ausführung mit zwölf Eddys mit deutlich günstigeren Preisen.

Der Berliner Windkraftanlagen-Fachmann Norman Pieniak allerdings warnt vor überhöhten Erwartungen: Rein ökonomisch betrachtet, mache man mit einer konventionellen Kleinanlage – einem schlichten Mast mit einem klassischen, dreiflügligen Rotor – den besseren Deal. Jede Konstruktion mit mehreren Rotoren benötige nämlich mehr Technik, sagt er, «was in der Regel höhere Produktionskosten und häufigere Reparaturen bedeutet». Dennoch sieht er eine Chance für die Windkraftbäume: «Ich kann mir gut vorstellen, dass ihre völlig neue Formensprache neue Zielgruppen für die Windkrafttechnologie erschliesst, für die nicht allein Effizienz und Wirtschaftlichkeit im Vordergrund stehen.»

Kamiel Klaasse hat noch einen Trumpf im Ärmel. Am Bildschirm seines PCs klickt er eine weitere Computeranimation an: Ein bauchiges Gebilde, das sich nach oben hin wie ein Flaschenhals verjüngt, ragt 300 Meter weit in einen wolkenlosen Himmel – der «Tower of Power». Fast so hoch wie der Eiffelturm. Integriert sind ein Parkhaus, eine Lounge, ein Restaurant, Sitzungssäle, ein Museum und eine Aussichtsterrasse.

NL Architects haben ihn für die Millionenstadt Taichung an der Westküste von Taiwan entworfen. Das Besondere: Über den gesamten Turm ist eine Art Netzstrumpf aus Stahlseilen gestülpt. Und in jeder der 600 Maschen des Strumpfs dreht sich ein riesiger Eddy mit zehn Metern Länge. Bei gutem Wind soll es dieser Energieturm auf eine Leistung von sechs Megawatt bringen. Er könnte genügend Strom erzeugen, um eine Kleinstadt mit rund 8000 Haushalten zu versorgen. In Taichung, wo 2,6 Millionen Menschen leben, würde es für einen ganzen Stadtteil reichen. Die Regierung von Taiwan werde hoffentlich bald die nötigen Millionen für die Weiterentwicklung dieser Technologie zur Verfügung stellen, sagt Klaasse.

Erst einmal aber wollen NL Architects in Europa einen Wald aus Windkraftbäumen wachsen lassen.

Windenergie in der Schweiz

Es braucht mehr als schöne Namen

Vergangene Woche hat «Adonis» in der Unterwalliser Gemeinde Charrat den Betrieb aufgenommen – ein gigantischer Windspargel von 99 Metern Höhe und einem Rotorradius von fünfzig Metern. «Herkules» wäre passender gewesen, soll er doch rund 1800 Haushalte mit Strom versorgen.

Tatsächlich regiert in der Windenergieindustrie der Slogan «size matters» (auf die Grösse kommt es an): Je grösser die Windturbine, desto kostengünstiger produziert sie Strom – und desto klimaschonender, wie eine jüngst publizierte Studie der ETH Zürich zeigt. Nichtsdestotrotz forscht auch das Institut für Energietechnik in eine ähnliche Richtung wie das Amsterdamer Büro NL Architects (vgl. Haupttext). «Wir wollen das Design von Windturbinen weiterentwickeln, indem wir uns an architektonischen Konzepten orientieren, die von der Natur inspiriert sind», sagt Reza Abhari, der das Laboratory for Energy Conversion des ETH-Instituts leitet. Damit solle die soziale Akzeptanz von Windkraftanlagen vergrössert werden.

Tatsächlich stossen Windanlagen auch in der Schweiz auf grossen Widerstand – obwohl sie bloss 0,004 Prozent des landesweiten Energiebedarfs decken. Vielen GegnerInnen ist nicht allein der massive Eingriff ins Landschaftsbild ein Dorn im Auge. Die riesigen Rotoren sind auch eine Gefahr für Vögel. Und bei Menschen wird eine ganze Reihe von Gesundheitsbeeinträchtigungen geltend gemacht, die vor allem durch den tieffrequenten Schall hervorgerufen werden: Schlafstörungen, Herz- und Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen.

Auch die Forschungsanstalt Empa, die zum ETH-Bereich gehört, nimmt den Widerstand ernst: Sie versucht mittels visuell-akustischer Simulationen herauszufinden, welchen Kriterien ein optimal verträglicher Windenergiepark genügen muss. Zumindest die Windenergielobby Suisse Eole will nämlich bis 2020 das Potenzial der Windenergie an zahlreichen Standorten nutzen. Im Kanton Neuenburg etwa soll bis dahin gar ein Viertel des gesamten Strombedarfs aus Windanlagen gedeckt werden. Ein ebenso grosses Potenzial ortet eine vergangene Woche vorgestellte Studie auch im Kanton Baselland. Schweizweit, so schätzt Swiss Eole, könnte 2020 für rund 384 000  Haushalte Windstrom produziert werden, was 2,3 Prozent des landesweiten Strombedarfs decken würde.
Franziska Meister