Energiepolitik: Mit Rücksicht auf Fisch und Vogel

Nr. 8 –

Wind, Wasserkraft, Solarenergie: Es braucht alle drei für eine fossilfreie Energieversorgung der Schweiz. Wo liegen die Chancen? Wo droht hingegen ein Ausbau auf Kosten von Tieren, Lebensräumen und Landschaft? Drei Ortstermine vor der Debatte im Parlament.

Illustration: Hügellandschaft mit Windkrafträdern und Solaranlagen, ein Flusskraftwerk und im Hintergrund zwei Schornsteine eines fossilen Kraftwerks

«Bisch mit em Benziner do?» Freundschaftlich mokiert sich Jürg Michel über seinen Kollegen Josias Gasser. Der meint entschuldigend, normalerweise fahre er Tesla. Doch jetzt nimmt er schnell eins der Firmenautos, um zum grossen gemeinsamen Werk zu fahren. Gasser war Bündner National- und Kantonsrat der Grünliberalen und ist Verwaltungsratspräsident der Gasser-Gruppe, zu der unter anderem eine Baumaterialien- und eine Gartenfirma gehören. Er ist siebzig und wirkt enthusiastisch – ganz und gar nicht, als hätte er Lust auf Ruhestand. Michel ist ehemaliger Gemeindepräsident von Haldenstein, das inzwischen zu Chur gehört. Gemeinsam besitzen sie eine Firma: Calandawind.

Wer mit dem Zug nach Chur fährt, sieht ihre Windturbine: zwischen Autobahn, Rhein und einem Kieswerk. Trotz ihrer 175 Meter Höhe wirkt sie nicht besonders gross. Weil sie im Tal steht, direkt am Hang des Calanda, der sie weit überragt.

Windkraft: Nah bei der Zivilisation

Dass es in Haldenstein viel lufte, habe er schon als Kind gemerkt, sagt Gasser. Michel schlug den Standort beim Kieswerk vor. Sie gründeten Calandawind bewusst nur zu zweit: «Wir wollten kurze Entscheidungswege.» Dass sie lokal verankert seien, habe für die Akzeptanz sicher geholfen: «Wir sind beide Bürger von hier, keine Strombarone.» Einsprachen von Umweltverbänden gab es keine; die Stiftung Landschaftsschutz unterstützte das Projekt. «Es passt gut zu den bestehenden Infrastrukturen und liegt in unmittelbarer Nähe zu den Stromverbrauchsorten», sagt deren Geschäftsführer Raimund Rodewald. «Zudem sind Windräder in Talebenen deutlich landschaftsverträglicher als auf Bergkuppen.» 2013 war die Anlage fertig gebaut.

An diesem Mittag mit leichtem Wind dreht sich der Rotor fast geräuschlos. Viel lauter ist das Rattern des Kieswerks, das Rauschen von Fluss und Autobahn. Gasser öffnet die Luke am Fuss des schmalen weissen Turms. Im Inneren gibt es zwei Wege nach oben: eine Leiter und eine Liftkabine, eine Art Metallkasten, aufgehängt an einem Stahlseil. Das Display zeigt, wie viel Strom gerade produziert wird. «Bei gutem Wind geht es bis 3000 Kilowatt», sagt Michel. Stürmt es heftiger, dreht sich der Rotor automatisch aus dem Wind: «Das Getriebe würde zu stark belastet.» Positiv an der Windturbine sei, dass man sie vollständig rückbauen und rezyklieren könne. «Für den Fall, dass Kernfusion doch einmal möglich wird …»

Den Vogelschutz nähmen sie ernst, sagt Gasser. Gemeinsam mit der Schweizerischen Vogelwarte habe die Firma 2014 schon Systeme getestet, die Vogelschwärme und grosse Einzelvögel erkennen und im Notfall den Rotor anhalten. Wegen des geringen Kollisionsrisikos an diesem Standort seien sie heute nicht mehr in Betrieb. «Zwei Jahre lang hat unser Werkmeister jede Woche geschaut und nie tote Vögel gefunden.»

Nun planen Gasser und Michel ein zweites Windrad, 700 Meter vom ersten entfernt. Das Projekt liegt beim Kanton zur Vorprüfung. Aber jetzt macht ausgerechnet ein Vogel Schwierigkeiten: Die Schweizerische Vogelwarte hat Kenntnis von einem Uhupaar, das seinen Horst nur 300 Meter vom neuen Standort entfernt in einer Felswand hat. Darum stehe die Vogelwarte der geplanten Anlage ablehnend gegenüber, sagt Livio Rey, Mediensprecher der Warte.

Er erwarte eine vernünftige Abwägung, sagt Gasser. «Es kann nicht sein, dass ein Projekt, das Strom für über 2000 Haushalte liefert, wegen pauschaler, nicht regional abgestützter Abstandsregeln scheitert.» Er möchte stattdessen in Ausgleichsmassnahmen investieren: «Uhus sterben oft wegen Stromschlägen an Fahrleitungen der Bahn. Die Leitungen können vogelfreundlich saniert werden. Damit ist der Uhupopulation mehr gedient als mit dem Verzicht auf unser Projekt.» Calandawind sei weiterhin mit der Vogelwarte in Kontakt und hoffe auf eine einvernehmliche Lösung.


Wie gefährlich sind Windturbinen für Vögel? «Das hängt stark vom Standort ab», sagt Raffael Ayé, Geschäftsführer von Birdlife Schweiz. «Es gibt Gebiete, wo Windturbinen sehr grossen Schaden anrichten können, und andere, wo er gering ist.» Vögel kollidieren mit Rotorblättern oder werden vom Luftdruck getötet. «Lernen, den Rotoren auszuweichen, können sie wahrscheinlich nicht», sagt Ayé. «Es gibt Filmaufnahmen von Greifvögeln, die lange in der Nähe kreisen und plötzlich erschlagen werden.» Die Vogelwarte stuft 46 Brutvogelarten als «windkraftsensibel» ein, ausserdem gelten alle Zugvogelarten als kollisionsgefährdet.

Mindestens so problematisch sei der Lebensraumverlust, sagt Ayé. «Viele Vögel, zum Beispiel die bedrohten Auerhühner, meiden grosse vertikale Strukturen, die sich bewegen. Und jede Windturbine braucht eine Erschliessungsstrasse. Riesige Teile müssen transportiert werden.» Die Folge: Auch mehr Tourist:innen, grössere Forst- und Landwirtschaftsmaschinen kommen in ein solches Gebiet.

Heute macht die Windkraft weniger als ein Prozent des Schweizer Strommixes aus, nur 41 Anlagen sind in Betrieb und liefern 0,15 Terawattstunden Strom pro Jahr. Die Umwelt- und Energiekommission des Nationalrats plant eine «Windoffensive»: Der Ausbau soll beschleunigt werden, bis Windkraft eine Terawattstunde produzieren kann. Bis dann sollen Kantone statt Gemeinden für die Baubewilligung von Windanlagen zuständig sein und Umweltorganisationen nur noch in Ausnahmefällen dagegen bis vor Bundesgericht gehen können. Im März berät der Nationalrat darüber.

Illustration: ein gefülltes Staudammbecken mit Personen welche auf der Staudammkrone stehen, im Hintergrund eine Bergkette, die Sonne und ein Flieger am Himmel, welcher Kondensstreifen hinterlässt
Die Schweiz hat lange ganz auf Wasser- und Atomstrom gesetzt. Wirklich naturnahe Gewässer gibt es hierzulande fast keine mehr.

Ayé kritisiert die Pläne: «Das Bundesgericht hat in einem Rechtsstaat eine extrem wichtige Rolle – gerade in einem Land ohne Verfassungsgericht.» Dass die Umweltverbände vor Bundesgericht in mehr als der Hälfte der Fälle recht bekämen – nicht nur bei der Windkraft –, zeige, dass frühere Instanzen nicht sorgfältig gearbeitet hätten: «Die Projekte waren schlicht nicht gesetzeskonform.»

Häufig würden Windkraftanlagen nicht an bereits belasteten Standorten wie in Haldenstein geplant, sondern dort, wo sie möglichst wenig Anwohner:innen stören könnten: weit weg vom Siedlungsgebiet. «Die Biodiversität kommt bei der Planung oft zuletzt.» Birdlife stelle sich überhaupt nicht grundsätzlich gegen Windkraft, wenn der Standort sorgfältig ausgewählt sei und nicht in einem Schutzgebiet liege, sagt Ayé. «Es geht bei allfälligen Rekursen auch nicht darum, ob wir Windanlagen schön finden. Sondern dass das Gesetz eingehalten wird.»

Wie gross ist das Potenzial für Windkraft in der Schweiz? Das Bundesamt für Energie (BFE) schätzt es auf 29,5 Terawattstunden pro Jahr. Das ist ziemlich genau halb so viel Strom, wie die Schweiz 2021 verbraucht hat. Der Sprung von einem auf fünfzig Prozent des Strommixes würde allerdings ein gigantisches Bauprojekt voraussetzen: 4439 Windanlagen, davon knapp 2000 im Mittelland. Die Hälfte dieser Anlagen stünde im Wald, rund zehn Prozent in Landschaften von nationaler Bedeutung, sogenannten BLN-Gebieten. Naturschutzgebiete würden nicht angetastet – aber die Schweiz sähe sehr anders aus als heute.

Wasserkraft: Klein ist nicht immer sympathisch

«Suchen Sie etwas?», fragt der bärtige Mann mit Kinderwagen. «Kann ich helfen?» Salome Steiner ist nicht auf einem Orientierungslauf, wie der Mann meint. Sie will das Turbinenhäuschen des Kleinkraftwerks Sursee anschauen. Als er hört, dass sie für die Gewässerschutzorganisation Aqua Viva arbeitet, hakt er gleich ein. Er ist mit einem Berufsfischer befreundet und kennt sich aus. Dass der Sempachersee immer noch künstlich belüftet werden müsse, sei schlimm: «Am Ende bezahlen wir das mit den Steuern.» Der See wäre dann in einem guten Zustand, wenn sich die Felchen natürlich fortpflanzen könnten, sagt er. Heute müssen die Fischer:innen nachhelfen: Sie fangen die Fische, nehmen ihnen Laich ab, befruchten künstlich und setzen die Fischchen aus (siehe WOZ Nr. 12/20). Der Mann spricht Steiner aus dem Herzen. «Kein Lebensraum ist so gefährdet wie die Gewässer», sagt sie. Gerade hat das Bundesamt für Umwelt einen neuen Bericht veröffentlicht: In der Schweiz sind 43 von 71 Fischarten gefährdet, 9 bereits ausgestorben. Mitgezählt sind die Rundmäuler, eine Art Urfische, zu denen die Neunaugen gehören.

An das Turbinenhäuschen kommen wir nicht heran. Der Zaun der Baustelle daneben versperrt den Zugang. Es ist nicht viel grösser als eine Schrebergartenhütte. Wegen dieses Kraftwerks sind wir in Sursee: Steiner will zeigen, wie solche winzigen Zentralen die Fliessgewässer beeinträchtigen.

Das Suhrental zieht sich vom Luzerner Städtchen Sursee nach Norden Richtung Aargau. Früher gab es hier riesige Feuchtgebiete. «Die Suhre verbindet den Sempachersee mit der Aare, sie ist wichtig für Äsche, Nase und Forelle und auch ein potenzielles Laichgewässer für den Lachs», sagt Steiner. «Aber dieses Kleinstkraftwerk versperrt den Weg in den See.» Man unterscheidet Kleinkraftwerke, bis 10 000 Kilowatt Leistung, und Kleinstkraftwerke, bis 300 Kilowatt. Kleinwasserkraft, das klingt doch sympathisch. Es sind auch oft Genossenschaften, die solche Zentralen betreiben. «Aber für die Biodiversität ist Kleinwasserkraft eine Katastrophe», sagt Steiner. «Der ökologische Schaden steht in keinem Verhältnis zur produzierten Strommenge.» Die Zahlen sind deutlich: Die 900 Kleinstwasserkraftwerke machen mehr als die Hälfte der Schweizer Wasserkraftanlagen aus, aber liefern nicht einmal ein Prozent des Wasserstroms.

Eigentlich sieht sie doch schön aus, die Suhre. In Sursee fliesst sie an einer typisch schweizerischen Mischung aus alten Wohnblöcken, Schrebergärten, neuen Klotzbauten und einem mittelalterlichen Turm vorbei, an einigen Stellen darf sie ein paar Bögen machen. Da wachsen Schilf und pelzige Kanonenputzer, Bäume stehen im Wasser. Eine weisse Ente, die wirkt, als käme sie aus dem hohen Norden, schwimmt zwischen ihren unauffälligen Kolleginnen. «Ja, einen Bach natürlicher zu gestalten, lohnt sich immer, auch auf einem kurzen Stück», sagt Salome Steiner. Ihre Begeisterung ist hörbar, als sie ausführt: «Entscheidend ist die Dynamik: mal schneller, mal langsamer, mal tiefer, mal sandiger. Da leben sofort mehr Insekten und Vögel, im Frühling hört man den Unterschied. Und auch Menschen fühlen sich wohler. Umso wichtiger wäre es, dass auch die Fische wandern können.»

Energiepolitik in der Session

Am 13. März geht die Debatte um die Energiezukunft der Schweiz im Nationalrat weiter, nachdem im Herbst schon der Ständerat über das «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» beraten hatte. Die kleine Kammer möchte die Produktionskapazitäten für erneuerbare Energie stark ausbauen und ambitionierte Zielwerte ins Gesetz schreiben. Auch in Biotopen von nationaler Bedeutung sollen Anlagen möglich sein. Der Ausbau von Wasserkraft- und Solaranlagen für Winterstromreserven soll vor anderen nationalen Interessen wie Natur- und Landschaftsschutz Vorrang haben. Hingegen verzichtete der Ständerat auf griffige Vorgaben zu Energieeffizienz von Gebäuden und Solaranlagen auf Dächern.

Nach heftiger Kritik von Umweltverbänden will die Umweltkommission des Nationalrats (Urek-N) die Biotope nationaler Bedeutung nun schonen. Gletschervorfelder und Schwemmebenen, die das Potenzial hätten, neu ins Biotopinventar aufgenommen zu werden, hingegen nicht. Die Vorberatungen der Urek-N dauern diese Woche bis nach Redaktionsschluss an.

Kleinwasserkraft habe keine Subventionen verdient, sagt Steiner. Doch in den letzten Jahren geschah das Gegenteil: 2007 revidierte das Parlament das Energiegesetz und führte die kostendeckende Einspeisevergütung ein. Nur fünf Prozent dieser Gelder waren für Solarenergie reserviert, aber bis zu fünfzig Prozent für die Wasserkraft. «Seither wurden 364 neue, vor allem kleine Wasserkraftwerke gebaut, zum Teil in Schutzgebieten», sagt Steiner. Swiss Small Hydro, der Verband der Kleinwasserkraftwerke, will den Ausbau mit der gerade lancierten Volksinitiative «Jede einheimische und erneuerbare Kilowattstunde zählt» noch weitertreiben.

Und auch bei der Grosswasserkraft soll es vorwärtsgehen: Der Ständerat möchte ein Wasserkraftausbauziel von 39,2 Terawattstunden bis 2050 in den Mantelerlass des Energiegesetzes schreiben und die fünfzehn Projekte des Runden Tisches Wasserkraft vorantreiben, auf die sich Bundesrat, Stromwirtschaft und einige Umweltverbände 2021 geeinigt haben – Aqua Viva war nicht dabei. In der Herbstsession hat das Parlament zudem beschlossen, dass die Restwassermengen vorübergehend unterschritten werden dürfen, um mehr Strom produzieren zu können.

Ist ein Ausbau der Wasserkraft noch vertretbar? Salome Steiner plädiert dafür, die Relationen zu sehen: «99 Prozent des Wasserkraftpotenzials sind genutzt. Was wir schützen wollen, sind die allerletzten naturnahen Gewässer.»

Solar: Die Anbauschlacht kommt – aber wo?

«Willkommen in unserem neuen Büro. Ist es okay, wenn wir uns duzen?» Der Start-up-Groove, den Noah Heynen und seine Solarfirma Helion Energy verströmen, ist fast schon unheimlich. Vor wenigen Monaten konnte Helion im Industrieareal von Zuchwil, der südöstlichen Nachbargemeinde von Solothurn, in ein neues Bürogebäude einziehen. Es wurde auf eine bestehende Lagerhalle gebaut: viel Holz, viel Glas, alles ist bewusst offen gehalten, und auf dem Flachdach steht die firmeneigene Fotovoltaikanlage. Heynen führt gut gelaunt durchs Gebäude: «Lass dich nicht täuschen, weil gerade nicht so viel los ist, fast alle arbeiten hier Teilzeit und auch im Homeoffice», sagt der 35-jährige Helion-CEO. Sie würden derzeit in Arbeit versinken.

Der Groove täuscht. Helion ist längst kein Start-up mehr. Heynen gründete die Firma bereits 2008 als zwanzigjähriger Elektrotechniker, gemeinsam mit dem befreundeten Samuel Beer, der heute für die Grünliberalen im Solothurner Kantonsparlament sitzt. «Keine Bank wollte uns damals einen Kredit geben, Fotovoltaik galt als völlig unrentabel. Ich musste ein Darlehen bei meiner Grossmutter aufnehmen», sagt Heynen, der mittlerweile in einem verglasten Sitzungsraum Platz genommen hat und eine Powerpoint-Präsentation startet. Doch vor allem dank staatlicher Fördermassnahmen erlebte die Branche in jener Zeit einen ersten Boom. Die Firma wuchs, ein schweizweites Filialnetz entstand, Helion avancierte zum Branchenprimus.

Zwei Jahre später folgte ein Einbruch, als die Fördermittel des Bundes wegbrachen. «Das war hart. Wir mussten sogar Leute entlassen», sagt Heynen. Mittlerweile gehe es wieder steil aufwärts, die Zahl der Mitarbeiter:innen sei innert drei Jahren von 135 auf rund 500 gewachsen. Und die Firma gehört seit letztem Herbst dem Automobilunternehmen Amag. Heynen lacht, als die Frage auf den neuen Besitzer kommt. Das passe nur auf den ersten Blick nicht zusammen. «Wir bieten auch Solarladestationen für Elektroautos an, denen die automobile Zukunft gehört. Vor unseren Häusern steht also künftig ein gewaltiges Speicherpotenzial, denn Autobatterien werden bald auch entladen können und somit als dezentrale Zwischenspeicher im Stromnetz eingesetzt werden, um dieses auszugleichen. Ein Gamechanger», sagt Heynen.

Wie steil und nachhaltig Helions Aufstieg letztlich wird, entscheidet sich in der kommenden Frühlingssession. Mitte März berät das Parlament das «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien». Die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien soll massiv ausgebaut werden, auf mindestens 35 Terawattstunden pro Jahr bis 2035, Wasserkraft nicht mitgerechnet. Heute liegt der landesweite Stromverbrauch bei etwa 60 Terawattstunden, der Anteil von Sonne, Wind und Biomasse bei deutlich unter zehn Prozent. Der geplante Ausbau wird also gigantisch sein – und es ist auch klar, dass die Solarenergie der Schlüsselbereich sein wird.

FDP und Mitte wollen vor allem grosse Anlagen auf freien Flächen realisieren – in den Alpen, wo auch im Winter die Sonne viel scheint. Es ist quasi die Fortsetzung der heute bestehenden Infrastruktur: Wenige grosse Player dominieren den Strommarkt zentral. Im linksgrünen Lager möchten hingegen viele vor allem bereits verbaute Flächen – Dächer, Parkplätze, Autobahnen – für Fotovoltaik nutzen. Die entsprechende Infrastruktur wäre viel dezentraler als die heutige. «Noch ist also unklar, wo und wie die Fotovoltaikanbauschlacht massgeblich vollzogen wird», sagt Léonore Hälg von der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES).

Hälg und auch Noah Heynen gehören zu den vehementen Verfechter:innen einer Solaroffensive auf bereits verbauten Flächen, auch wenn beide betonen, sie seien nicht grundsätzlich gegen Anlagen in den Alpen. «Aber dass im Mittelland während der Wintermonate weniger Solarstrom erzeugt werden kann, ist nicht so problematisch, wie oft behauptet wird», sagt Hälg. Im Grunde sei nur die Periode von November bis Februar kritisch, bereits ab März steige die Produktion der Anlagen im Mittelland wieder stark an. «Weil auch im Herbst sehr viel produziert wird, können mit der gewonnenen Energie die Stauseen geschont werden, womit ein wesentlicher Teil der Lücke aufgefangen werden könnte», sagt Hälg. Hinzu komme, dass der Bau von Anlagen auf freien Flächen in den Alpen in vielen Fällen wohl aufwendiger und teurer sei als auf verbauten Flächen. «Für dasselbe Geld können im Mittelland viel grössere Flächen abgedeckt werden. Auch dieser Mehrausbau verringert die Lücke.»


Noah Heynen ist mittlerweile aufs Dach gestiegen, zur firmeneigenen Solaranlage. «Sie besteht aus verschiedenen Modultypen», sagt er und weist auf die dachförmig montierten Panels beim Treppenaufgang. «Sie sind nach Osten und Westen ausgerichtet. Eine Fläche produziert morgens, die andere nachmittags, wodurch eine gleichmässigere Stromerzeugung über den Tag möglich wird als bei Südausrichtung.» Dahinter stehen senkrecht aufgestellte Panels, die gerade in den Wintermonaten sinnvoll sein können, wenn die Sonneneinstrahlung flacher ist. Dann weist Heynen auf das gegenüberliegende Dach einer grossen Industriehalle, die einst der Maschinenkonzern Sulzer nutzte. Dort hat Helion vor sieben Jahren auf einer Fläche von fünf Fussballfeldern eine der grössten Solaranlagen der Schweiz aufgebaut. Deren Leistung entspricht dem Jahresstrombedarf von über 2500 Personen. «Das Potenzial der Solarenergie auf bereits verbauten Flächen ist gigantisch», sagt Heynen beim Blick über die Dächer.

Laut dem BFE liegt es bei 67 Terawattstunden Strom pro Jahr. Das sind zehn Prozent mehr, als die Schweiz 2021 verbraucht hat. Noah Heynen schätzt es sogar noch höher. Eine weitere Zahl des BFE ist für die Debatte entscheidend: 25 bis 40 Prozent des verbrauchten Stroms könnten eingespart werden, wenn in allen elektrischen Anlagen die effizientesten Technologien eingesetzt würden. Dieses Ziel sei allerdings nicht kurzfristig realisierbar, schreibt das BFE. Es ist an der Politik, in diese Richtung zu steuern.

Eine fossil- und AKW-freie Energieproduktion ist also möglich – ohne die Zerstörung der letzten naturnahen Gewässer, ohne grosstechnischen Gigantismus und ohne eine problematische Aufweichung des Umweltrechts.

WOZ Debatte

Diese Debatte ist abgeschlossen. Diskutieren Sie bei unseren aktuellen Themen mit! Wenn Sie eine Anmerkung zu diesem Artikel haben können Sie auch gerne einen Leser:innenbrief schreiben.

Kommentare

Kommentar von Lüku H.

So., 26.02.2023 - 09:13

Den bürgerlichen Energie Lobbyisten geht es darum, dass sie uns auch in Zukunft die Energie verkaufen können. Es muss eine schreckliche Vorstellung sein, dass eines Tages jedeR selbst die Energie fürs Auto, Heizen etc. auf dem eigenen Dach produzieren kann. Eine Katastrophe für die gesamte Energiebranche, da sich nur mit der Netzbetreibung nicht so viel Geld verdienen lässt.

Kommentar von Dscheier

So., 26.02.2023 - 15:59

Gewässer und sensible Landschaften müssen besser geschützt werden. Dazu braucht es den Ausbau der Photovoltaik auf bestehenden Gebäuden. Geeignete Flächen gibt es in der Schweiz mehr als genug, Geld für den Ausbau ist vorhanden. Entscheidend ist der Preis, den Betreiber:innen von Solaranlagen für den ins Netz eingespeiste Strom erhalten. Und dieser ist heute deutlich zu tief. Eine sichere und bezahlbare Stromversorgung hängt u.a. davon ab, ob wir den Systemwechsel hin zu einer dezentralen Produktion schaffen.