Steuerdumping: Wie sich die Schweiz am Ausland bereichert

Nr. 41 –

Eine Expertise des sozialkritischen Thinktanks Denknetz zeigt erstmals die Folgen der aggressiven Schweizer Tiefsteuerpolitik: Ausländischen Staaten entgehen bis zu 36,5 Milliarden Franken an Steuereinnahmen.

Der Druck aus dem Ausland kommt stets in Wellen. Und jedes Mal, wenn er wieder nachlässt, lehnt sich die Schweizer Politik zurück, als wüsste sie nicht, dass sich irgendwo da draussen bereits das nächste Ungemach zusammenbraut, um mit neuer Kraft auf die Schweiz zuzurollen.

Es geht längst nicht mehr nur um das Bankgeheimnis, um hinterzogene, illegal in der Schweiz angelegte Vermögen, sondern auch um die legale, aber nicht legitime, aggressive Steueroptimierung multinationaler Konzerne – oder wie es Andreas Missbach, Steuerexperte der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisation Erklärung von Bern, bereits 2009 in der WOZ beschrieb: um «nicht illegale Steuervermeidung».

Seit Jahren unternimmt die Europäische Union immer wieder neue Anläufe, um die «schädlichen Steuerpraktiken» der Schweiz zu stoppen, und droht mit einseitigen Massnahmen. Denn seit die Schweiz 1998 mit der Unternehmenssteuerreform I günstige Sondertarife für Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften einführte, hat sich die Eidgenossenschaft zu einer Steueroase für multinationale Konzerne entwickelt. Wie viel Geld dem Ausland dadurch verloren ging, darüber gab es bislang nur Mutmassungen.

Steuern sinken

Jetzt hat der sozialkritische Thinktank Denknetz aufgrund von Zahlen der Eidgenössischen Steuerverwaltung Berechnungen angestellt, die erstmals das Ausmass der Steuervermeidung zeigen: Jedes Jahr entgehen ausländischen Staaten durch die Schweizer Tiefsteuerpolitik bis zu 36,5 Milliarden Franken an Steuereinnahmen (vgl. «Wie das Denknetz rechnet» im Anschluss an diesen Text).

Derzeit arbeitet das Finanzdepartement an der Unternehmenssteuerreform III. Dabei soll unter anderem die Stempelsteuer abgeschafft und die Gewinnsteuern für Unternehmen gesenkt werden. Die erneute Steuersenkung – der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) spricht von einem «Jahrhundert-Steuergeschenk» – würde den Bund wohl mehrere Milliarden kosten (vgl. «Schöne Steuergeschenke» im Anschluss an diesen Text).

Tatsächlich kannten die Steuersätze für Unternehmen in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren nur eine Richtung: abwärts. Betrugen die effektiven Steuersätze für Unternehmen 1990 noch 19,5 Prozent, sind sie bis zum Jahr 2008 – aus diesem Jahr stammen die letzten Zahlen der Steuerverwaltung – auf 6,9 Prozent gesunken. Das ist, verglichen mit anderen OECD-Staaten, rekordverdächtig tief. Das Denknetz sieht in den tiefen Unternehmenssteuern denn auch einen wesentlichen Grund dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr ausländische Konzerne in die Schweiz zogen. So schreibt das Denknetz in seiner Expertise: «Es erstaunt nicht, dass die Schweiz für transnationale Unternehmen und insbesondere für Handelsunternehmen (zum Beispiel Rohstoffe) als Firmenhauptsitz so attraktiv geworden ist.»

Gewinne steigen

Im Jahr 2004 waren in der Schweiz knapp 240 000  Unternehmen ansässig. Bis 2008 ist diese Zahl auf 280 000  angestiegen. Bemerkenswert daran ist vor allem die Zunahme von Firmen mit grossen Gewinnen. Verbuchten 2004 noch 5690 Unternehmen einen steuerbaren Gewinn von über einer Million im Jahr, waren es 2008 bereits 8286 Firmen.

Während also die Steuersätze sanken, zogen neue Firmen in die Schweiz, die immer höhere Gewinne einfuhren. 2004 betrug der steuerbare Gewinn aller in der Schweiz domizilierter Unternehmen 119,7 Milliarden Franken, 2008 waren es bereits mehr als doppelt so viel: 280,3 Milliarden – und das im Jahr der grossen Krise, als die beiden Grossbanken, die sonst für nicht unwesentliche Gewinnsummen verantwortlich sind, rund 29 Milliarden Franken Verlust machten.

Von den 280 Milliarden Franken steuerbarem Gewinn waren 270 Milliarden allein auf diejenigen 8286 Unternehmen zurückzuführen, die mehr als eine Million an steuerbarem Gewinn verbuchten. Die restlichen rund 270 000  Unternehmen erwirtschafteten gerade mal 10 Milliarden Franken des steuerbaren Gewinns.

Dabei reduzieren die Sonderkonstrukte der Holding-, Domizil- und gemischten Gesellschaften die Steuersätze für Firmen nicht nur in der Schweiz. Holdinggesellschaften dienen vor allem der Verwaltung von Beteiligungen. Doch die in der Schweiz domizilierten Holdings müssen nicht nachweisen, dass sie auf ihren Beteiligungen an anderen Orten bereits Steuern bezahlt haben. Und die Steuerbehörden sind nicht ermächtigt, dies zu überprüfen. Unternehmen können deshalb in der Schweiz sogenannte Beteiligungsabzüge geltend machen, auch wenn von den von der Holding verwalteten Firmen am ausländischen Firmensitz keinerlei Steuern bezahlt worden sind. Unternehmen können mit diesen Konstruktionen die Steuerzahlung sowohl im In- wie im Ausland umgehen.

Was, wenn alle gehen?

Die in den letzten Jahren erzielten Gewinnsummen sind enorm. Sie werden von bürgerlichen Stimmen denn auch immer wieder angeführt, um das Steuerdumping zu rechtfertigen. Die Schweiz könne im Steuerwettbewerb nur mit tieferen Steuern bestehen. Zudem bringe die Neuansiedlung von multinationalen Konzernen in der Schweiz höhere Steuererträge. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, wie die Expertise des Denknetzes zeigt. Tatsächlich stiegen die Steuererträge von 7,5 Milliarden im Jahr 1990 auf 19,3 Milliarden im Jahr 2008. Das Geld, das die Schweiz dem Ausland entzieht, kommt aber grossteils nicht dem Staat zugute, sondern bleibt wegen der tiefen Steuern in den Unternehmen, oder – und das ist häufig der Fall – es wird als Dividende an AktionärInnen ausgeschüttet.

Umso bemerkenswerter ist die Rechnung, die das Denknetz jetzt anstellt: Würde die Schweiz nämlich auf das steuerliche «race to the bottom» verzichten und stattdessen einen für Europa durchschnittlichen Unternehmenssteuersatz von 20 bis 25 Prozent verlangen, dann hätte sie im Jahr 2008 zwischen 55,9 und 70 Milliarden Franken Steuern eintreiben können.

Die übliche Drohung bei Steuererhöhungen lautet: Die Unternehmen würden sofort abziehen und ihren Hauptsitz in andere Länder verlegen. Doch selbst wenn zwei Drittel der aus dem Ausland in die Schweiz transferierten Gewinne wieder abgezogen würden, hätte die Schweiz dank höherer Unternehmenssteuern noch immer Steuereinnahmen in der Höhe von 33,5 bis 42 Milliarden Franken – rund doppelt so viel, wie die Schweiz 2008 einnahm.

Selbst mit dem Szenario «Alle gehen» betrüge der Steuerertrag dank höherer Steuern noch immer 22,4 bis 28 Milliarden Franken. Das wäre noch immer mehr als die 19,3 Milliarden, die die Schweiz mit ihrem Tiefsteuersatz im Jahr 2008 einnahm.

Wie das Denknetz rechnet

Wie kommt das Denknetz auf die rund 36,5 Milliarden Franken, die die Schweiz jedes Jahr dem Ausland als Steuererträge entzieht? Die Rechnung basiert auf Zahlen der Steuerverwaltung, die mit vorsichtigen Schätzungen kombiniert werden. Im Jahr 2008 erzielten jene 8286 Unternehmen, die einen steuerbaren Gewinn von über einer Million verbuchten, insgesamt 270 Milliarden Franken Gewinn. Rund 60 Prozent dieser Gewinne stammen aus dem Ausland. Von den 162 Milliarden Franken, die demnach aus dem Ausland abgezogen werden, zieht das Denknetz 10 Prozent als Puffer ab – für den Fall, dass nicht alle Firmen von den gesetzlich gewährten Steuerprivilegien Gebrauch machen. Bei einem zurückhaltend angenommenen Durchschnittssteuersatz von 20 bis 25 Prozent (in den USA beträgt er 39 Prozent, im Euroraum 26,1 Prozent) auf diese 146 Milliarden ergibt dies die den ausländischen Steuerbehörden entgangene Summe von 29,2 bis 36,5 Milliarden Franken.
Carlos Hanimann

Steuerwettbewerb : Schöne Steuergeschenke

Der interkantonale Steuerwettbewerb bezüglich der Unternehmenssteuern in der Schweiz hat nicht zu erhöhten Steuereinnahmen geführt. Dies zeigt eine soeben veröffentlichte Studie des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB).

Die kleinen Kantone haben ihre Unternehmenssteuern in den letzten Jahren wesentlich stärker als die grossen gesenkt. Sie konnten es sich auch leisten: Weder hatten sie grosse Steuerausfälle zu befürchten, noch waren sie auf die Steuereinnahmen der Firmen wirklich angewiesen. Die Hoffnung, mit tieferen Steuersätzen mehr Steuersubstrat anzuziehen und somit Mehreinnahmen zu generieren, bewahrheitete sich indes nicht. Der SGB stellt fest: Je mehr ein Kanton die Unternehmenssteuern senkte, desto weniger stark wuchsen die entsprechenden Steuereinnahmen. Dass die kleinen Kantone trotz geringerer Einnahmen die Steuersenkungen massiv vorantrieben, könnte gemäss Gewerkschaftsbund am Finanz- und Lastenausgleich (NFA) liegen. Da die kleinen Kantone durch die Steuersenkungen weder Steuersubstrat noch Arbeitsplätze anziehen konnten, sanken auch nicht deren Ansprüche auf Gelder aus dem NFA. Im Klartext: Die grossen Kantone, die die Zentrumslasten tragen und tendenziell höhere Unternehmenssteuersätze kennen, subventionieren die Steuersenkungspolitik der kleinen Kantone, die ihre Einnahmenlöcher mit Geldern aus dem NFA stopfen können.

Geht es nach den bürgerlichen PolitikerInnen und dem Unternehmensverband Economiesuisse, sollen im Zuge der Unternehmenssteuerreform III, die momentan ausgearbeitet wird, die nominellen Gewinnsteuern für Unternehmen auf fünfzehn Prozent gesenkt werden. Ausserdem soll die Stempelsteuer – die zum Beispiel auf Aktienausgaben oder Nennwerterhöhungen erhoben wird – komplett abgeschafft werden. Die Begründung lautet, dass unter dem Druck der EU die Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Erträgen bald aufgehoben werde und die betroffenen Spezialgesellschaften (Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften) als Folge den Standort Schweiz verlassen würden. Gemäss SGB-Studie würden die Steuererleichterungen zu Ausfällen von vier bis fünf Milliarden Franken auf Kantons- und Gemeindeebene führen. Und die Abschaffung der Stempelsteuer würde den Bund 2,5 bis 3 Milliarden kosten.
Susi Stühlinger