75 Jahre Medico International Schweiz : Mit freundlicher Hartnäckigkeit in aller Welt

Nr. 46 –

Seit 1937 unterstützt eine Schweizer Organisation die Gesundheitsversorgung für Linke und Benachteiligte. Die Einsätze finden heute nur noch selten mitten im Krieg statt – aber es geht weiterhin nicht nur um Medizin, sondern auch um Politik.

Grossartiges Selbstbewusstsein: Die Hebamme Doña Josefa im Gespräch mit Maja Hess, der Präsidentin von Medico International Schweiz, in Suchitoto, El Salvador. Foto: Medico International

Ein paarmal sei sie in sehr gefährliche Situationen geraten, sagt Maja Hess. «Ich dachte, vielleicht überlebe ich das nicht. Aber es ist seltsam: Man gewöhnt sich daran.»

Das war in den achtziger Jahren. Zuerst arbeitete die junge Ärztin im revolutionären Nicaragua, dann in El Salvador, wo die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí gegen die rechte Regierung und ihre Paramilitärs kämpfte, die die Bevölkerung terrorisierten. Hess war im Auftrag der linken Centrale Sanitaire Suisse (CSS) unterwegs.

25 Jahre später reist sie noch immer jedes Jahr nach El Salvador – als Präsidentin von Medico International Schweiz, wie die CSS heute heisst. Sie unterstützt eine Gruppe von Laienhebammen und den Verein Los Angelitos, der behinderte Kinder fördert. Zu Hause arbeitet Hess in der Psychiatrie mit Suchtmittelabhängigen. Sie sei eine «Feld-Wald-Wiesen-Ärztin», sagt sie lachend. Die 54-Jährige strahlt eine freundliche Hartnäckigkeit aus.

Der Stuhl als Ehemann

Die salvadorianische Hebammengruppe beeindruckt Maja Hess. «Diese Frauen haben ein Selbstbewusstsein entwickelt, das ich grossartig finde. Sie wehren sich gegen die alltägliche Gewalt gegen Frauen – für arme Bäuerinnen ist das revolutionär. Eine wurde von ihrem Mann verlassen, als sie Hebamme wurde. Er hatte Angst, sie nicht mehr kontrollieren zu können. Doch sie ist dabei geblieben.» Hier unterscheide sich Medico von klassischen Hilfswerken, sagt die Ärztin: «Für uns sind die Hebammen genauso wichtig wie die Frauen, die von ihnen versorgt werden.» Es gehe nicht nur um medizinische Hilfe, sondern auch um politische Emanzipation.

Manchmal ist der Krieg plötzlich wieder da. Die älteren Hebammen beginnen zu erzählen, beiläufig, beim Kaffee. Maja Hess erlebt mit, wie sie in Tränen ausbrechen oder erstarren, blankes Entsetzen im Gesicht. Manche haben im Krieg Kinder geboren, die nicht überlebt haben. Oder sie haben sie Verwandten in Obhut gegeben, damit sie weiterkämpfen konnten, und fühlten sich danach jahrelang schuldig. Vielleicht sei jetzt, zwanzig Jahre danach, die Zeit gekommen, um darüber zu reden, meint Maja Hess.

Die psychosoziale Betreuung ist ein Schwerpunkt von Medico. Sehr wichtig ist dabei das Psychodrama, eine Methode der Gruppentherapie: Unter der Leitung von zwei TherapeutInnen spielen die Beteiligten Erlebnisse nach, um sie zu verarbeiten. Dabei geht es oft heftig zu und her: Maja Hess steht auf, verknotet ihr Schultertuch und beginnt damit auf einen Holzstuhl einzuschlagen. Der Stuhl symbolisiert zum Beispiel einen gewalttätigen Ehemann. Meist übernehmen Gruppenmitglieder die Rollen von Familienangehörigen, sie dürfen aber nicht physisch attackiert werden. «Manchmal kann eine solche Figur auch etwas Unwahrscheinliches tun: Die Person, die den prügelnden Ehemann darstellt, entschuldigt sich, auch wenn es der Mann nie tun würde. Das kann heilsam sein, obwohl es im imaginären Raum stattfindet.»

Medicos Beschäftigung mit dem Psychodrama begann fast zufällig: Als der Krieg in El Salvador 1992 vorbei war, plante eine Frauenbewegung eine Kampagne gegen häusliche Gewalt. «Doch viele Frauen, die anderen helfen wollten, hatten selbst Gewalt erlebt. Sie merkten, dass sie zuerst ihre eigenen Erfahrungen verarbeiten mussten.» Medico-Sympathisantin Ursula Hauser war schon damals eine bekannte Psychodramatikerin, und die Methode sei ideal, sagt Maja Hess: «Man kann mit fünfzehn Leuten gleichzeitig arbeiten, es verbindet die Menschen und wirkt schnell – auch weil das Psychodrama viel expressiver, körperlicher ist als eine Gesprächstherapie.» Wichtig sei eine erfahrene Leitung, damit es emotional werden könne, aber nicht aus dem Ruder laufe. «Die Gruppe entscheidet, welche Themen sie anschauen möchte. Denn für diese ist sie auch bereit. Einmal wollte ein Mann in Gaza die Ermordung seines Bruders nachspielen, aber die Gruppe war dagegen. Das ist ein Zeichen dafür, dass es sie überfordert hätte.»

Briefe aus Palästina

Für die Projekte in Palästina ist seit dreissig Jahren der jüdische Friedensaktivist Jochi Weil zuständig (siehe «Durch den Monat mit Jochi Weil» in WOZ Nrn. 48–51/11). Medico organisiert in Palästina Psychodramakurse, unterstützt Gesundheitsprogramme in Schulen, die Ausbildung von Gesundheitsfachfrauen und die «Medizinische Friedensbrücke», wo JüdInnen und PalästinenserInnen zusammenarbeiten.

Wie steht es mit der Gefahr, instrumentalisiert zu werden von Kreisen, die an Frieden nicht interessiert sind? Darauf achte Medico sehr genau, sagt Jochi Weil. «Vor Jahren unterstützten wir in Gaza ein Ambulatorium, das die gemeinsam vereinbarten Ziele nicht erfüllte. Ein Teil des Geldes wurde für vereinsinterne Zwecke verwendet.» Darum habe Medico die Zusammenarbeit abgebrochen. Wichtig sei auch, dass man nicht mit religiösen, sondern mit linken Partnern zusammenarbeite – etwa mit der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), mitbegründet vom palästinensischen Arzt und Politiker Mustafa Barghuti. Ihm komme die PMRS manchmal etwas hierarchisch vor, meint Weil. Aber sie leiste wichtige basismedizinische Arbeit.

Es ist immer schwieriger geworden, in den Gazastreifen zu kommen. Vor 25 Jahren genügte ein Reisepass; heute geht jeder Reise ein monatelanges Prozedere bei den israelischen Behörden voraus. Und auf dem Heimweg folgen oft Kontrollen am Flughafen: «Immer wieder werde ich befragt, ab und zu auch abgetastet. Das hat mit Sicherheit wenig zu tun, das ist ein Verhör. Einmal wurde ich so wütend, dass ich mein Gebetbuch und die Kippa ausgepackt habe: Die Beamten sollten mir sagen, wie es unsere Tradition rechtfertige, dass sie mit mir so umgehen. Sie haben geschwiegen.»

Jochi Weil ist müde. Der bald 71-Jährige ist daran, sein Amt bei Medico abzugeben. In der Palästina-Solidaritätsbewegung fühlt er sich oft unverstanden, weil er weiterhin auf eine Zweistaatenlösung hofft und nicht hinter der Israel-Boykott-Kampagne steht. «Umgekehrt finden viele in der Israelitischen Cultusgemeinde meine politische Haltung jenseits von Gut und Böse. Leute wie ich, die versuchen, Brücken zu bauen, haben immer weniger Platz.» Aber die Arbeit von Medico in Palästina überzeugt ihn weiterhin. Auf die Ankündigung seines Ruhestands hat er viele anerkennende Reaktionen bekommen, auch einen Brief aus Palästina von Mustafa Barghuti.

Medico International Schweiz ist auch in anderen zentralamerikanischen Ländern, in Mexiko, Kuba und Vietnam aktiv. Der Verein hat ein Sekretariat mit insgesamt 170 Stellenprozenten. Doch die Projektverantwortlichen arbeiten ehrenamtlich und organisieren ihre Reisen in der Freizeit. Hat Medico Probleme, solche engagierten Leute zu finden? «Es ist nicht einfach, denn sie sollten bereits politische Erfahrung haben und sich in einer Region auskennen», sagt Maja Hess. «Aber diese Tätigkeit ist eine Riesenchance, ein Land anders kennenzulernen. Ich bin den Menschen in Lateinamerika und Palästina sehr dankbar für alles, was ich miterleben durfte.»

Trotz der schweren Geschichten wirkt Hess kein bisschen resigniert. «Es fasziniert mich, wie Menschen sich verändern, wie sie mit Widersprüchen umgehen – und doch ihren Idealen treu bleiben, sich nicht unterwerfen.»

Das Rote Kreuz von links

«Die Centrale Sanitaire Suisse ist keine neutrale Organisation, denn es gibt keine Neutralität zwischen Fortschritt und Rückschritt.» So schrieb einer der Gründer, der Arzt Hans von Fischer, nach dem Zweiten Weltkrieg. Entstanden war die CSS schon davor: 1937, um die Linke im Spanischen Bürgerkrieg medizinisch zu unterstützen. Später half sie SpanienkämpferInnen und anderen Linken auf der Flucht; in Jugoslawien kümmerte sich das spätere Ethnopsychoanalytiker-Ehepaar Paul und Goldy Parin-Matthèy mit Ärztekollegen um verwundete PartisanInnen.

Nach einer ruhigeren Phase wurde die CSS in den sechziger Jahren zu einer Solidaritätsorganisation für vietnamesische Kriegsopfer. Wenig später begann sie, diverse linke Bewegungen zu unterstützen, etwa in Mittelamerika, Südafrika oder Eritrea. Seit den neunziger Jahren arbeitet die CSS locker mit dem deutschen Verein Medico International zusammen, 2002 hat sie ihren Namen geändert, bleibt aber organisatorisch unabhängig.

Paul Parin schrieb über den Einsatz der unerschrockenen CSS-Truppe in Jugoslawien ein eindrückliches Buch: «Es ist Krieg und wir gehen hin» (Rowohlt, 1991).

Medico in Eritrea : Bleiben oder gehen?

«Für uns war klar: Wir unterstützen Bewegungen, die sich aus kolonialer Abhängigkeit befreien wollen», sagt Maja Hess, Präsidentin von Medico International Schweiz. Darum wurde Medico auch in Eritrea aktiv. Dreissig Jahre lang kämpfte die Eritreische Volksbefreiungsfront gegen Äthiopien, das Eritrea 1961 annektiert hatte. 1993 wurde das Land wieder unabhängig.

Eritrea habe sie damals beeindruckt, erinnert sich Maja Hess: «Die Leute wollten nicht abhängig bleiben, sich die Politik nicht diktieren lassen – ‹self-reliance›, Eigenverantwortung, war ein wichtiger Begriff.» Medico unterstützte in Eritrea unter anderem die Ausbildung von Hebammen.

Doch das Regime wurde immer repressiver. Der ehemalige Befreiungskämpfer Isayas Afewerki regiert seit zwanzig Jahren, die Verfassung trat nie in Kraft. Wer den Militärdienst verweigert, wird eingesperrt – ein Grund dafür, warum Tausende von EritreerInnen flüchten, viele in die Schweiz.

Zweimal wurden Projekte, die Medico finanzieren wollte, im letzten Moment gestoppt, etwa die Förderung der HIV-Prävention mit Sexarbeiterinnen. «Diese Entscheide wurden in einer für uns intransparenten Weise gefällt», sagt Maja Hess. «Wir konnten das unseren Spendern kaum mehr vermitteln.»

Dieses Jahr hat Medico die Arbeit in Eritrea beendet – gegen den Willen der Projektverantwortlichen Esther Haas und Silvia Voser. «Wir sind uns einig, dass man vieles an der Politik Eritreas heftig kritisieren muss», sagt Voser. «Es gibt keine Meinungsfreiheit, keine freie Presse und keine unabhängige Justiz. Aber auf der lokalen Ebene finden Demokratisierungsprozesse statt. Dazu gehörte bei allen unseren Projekten das Abhalten von Dorfversammlungen für Diskussion, Bewusstseinsbildung und Wahlen.» Die DorfbewohnerInnen hätten zum Beispiel selbst entschieden, welche Frauen sie zu Hebammen ausbilden lassen wollten. «Esther Haas und ich gehen davon aus, dass das, was auf Gemeindeebene erlernt und umgesetzt wird, früher oder später Auswirkungen auf nationaler Ebene hat. Darum finden wir es falsch, dass Medico diesen Prozess nicht weiter begleitet.»