Durch den Monat mit Jochi Weil (Teil 1): Bräuchte es in Israel eine Psychodrama-Ausbildung?
Jochi Weil setzt sich für die Unabhängigkeit Palästinas ein und stösst damit in der eigenen Familie auf Unverständnis. Eine Einstaatenlösung in Israel und Palästina fände er vernünftig – ist aber trotzdem dagegen.
WOZ: Jochi Weil, Sie haben kürzlich einen Appell an die Schweizer Regierung gerichtet: Die Schweiz solle Palästina als Staat anerkennen.
Jochi Weil: Ja. Im Juli habe ich zusammen mit meiner Kollegin Miriam Victory Spiegel einen Aufruf verfasst: «Swiss Jews for Two States». 136 Schweizer Jüdinnen und Juden haben ihn unterschrieben. Wir haben dann einen Brief an Bundesrätin Micheline Calmy-Rey geschickt, und am 8. September wurden wir im Departement des Äusseren empfangen.
Warum ist Ihnen die Unabhängigkeit Palästinas wichtig?
Ich reise schon seit langem jedes Jahr nach Palästina. Die ökonomische und die medizinische Situation sind schlimm, es gibt die Mauer und die Checkpoints – aber das Allerschlimmste dünkt mich die Entwürdigung der Menschen. Für die Palästinenserinnen und Palästinenser ist es psychologisch sehr wichtig, dass dieser Schritt gemacht worden ist.
Aber über die Psychologie hinaus – finden Sie ihn sinnvoll?
Bis jetzt schon. Und ich muss Ihnen einfach sagen: In diesem Konflikt spielt die Psychologie eine unendlich wichtige Rolle. Auch bei dieser Frage. Persönlich – und da unterscheide ich mich von vielen Linken – sehe ich weiterhin eine Zweistaatenlösung, auf der Basis der Grenze vor dem Sechstagekrieg von 1967. Denn die Geschichte unseres Volks, der Jüdinnen und Juden, ist so stark mit Leid und Schmerz verbunden, dass wir nicht in der Lage sind, eine emanzipatorische Lösung anzustreben.
Sie meinen eine Einstaatenlösung?
Ja. «One person, one vote», ob die Person nun ein Palästinenser ist oder eine Jüdin oder ein Christ, das wäre ja vernünftig. Aber ich glaube, wir sind nicht in der Lage dazu.
Wegen der Angst, eine Minderheit zu werden?
Ja. Das ist etwas ganz Wichtiges. Eine Freundin von mir ist Historikerin in Jerusalem. Sie gehört zu den Frauen, die bei den Checkpoints stehen und schauen, dass die Soldaten sich einigermassen anständig benehmen – eine ganz gescheite und differenzierte Frau. Sie sagt, sie sei im Dilemma: Sie möchte eigentlich nicht in einem Apartheidstaat leben, in dem nicht alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte haben. Aber sie möchte auch nicht in einem Staat als Minderheit leben. Für dieses Dilemma sehe ich im Moment keine Lösung.
Bei der Zweistaatenlösung kommt sofort die Frage der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Ja. Ich frage mich auch, wie eine Zweistaatenlösung überhaupt noch möglich sein soll. Nehmen wir an, es käme in Israel eine vernünftigere Regierung an die Macht und würde den Befehl geben, die Siedlungen zu verlassen. Die Mehrheit würde das wahrscheinlich akzeptieren. Aber der Rest, die religiös-fanatischen Siedler und Siedlerinnen, würde vermutlich einen Bürgerkrieg anfangen. Es ist eine hoffnungslos verfahrene Situation. Meiner Meinung nach macht sich Israel selber kaputt. Und auch das hat viel mit Psychologie zu tun.
Warum?
Ich glaube, die wenigsten verstehen, was in uns abgeht. Die meisten jüdischen Israelis haben irgendwie die Haltung: Und ist die ganze Welt gegen uns, so machen wir erst recht, was wir wollen. Wir Jüdinnen und Juden sind so verschraubt in unserem Opferdasein, dass wir keine Empathie für die Palästinenser entwickeln können. Ich will nicht sagen: Ihr seid die bösen, und ich bin der gute Jude. Ich fühle mich auch zugehörig und sage aus diesem Verständnis heraus: Wir sind weitgehend nicht in der Lage zu dieser Empathie. Darum braucht es beides: Kritik an der israelischen Politik und gleichzeitig Solidarität, auch mit uns.
Medico International Schweiz bietet eine Psychodramaausbildung in Palästina an, in der die Menschen versuchen, ihre Traumata zu verarbeiten. Braucht es so etwas auch in Israel?
Ja! Maja Hess und Ursula Hauser, die diese Ausbildung leiten, haben mir erzählt, dass schon Israelis zu ihnen sagten: Das wäre auch für uns wichtig. Denn auch die Jüdinnen und Juden sind traumatisiert. Und die ganzen Terrorgeschichten reaktivieren das wieder, die Raketen aus Gaza, man darf das nicht unterschätzen. Sie verfestigen das Bild von den Palästinensern als Terroristen. Und seit zehn Jahren empfängt mich meine Cousine, die etwas ausserhalb von Tel Aviv wohnt, nicht mehr. Sie sagt: Du stehst auf der anderen Seite. Sie ist nicht bereit anzuerkennen, dass mein Grundanliegen das Bauen von Brücken ist.
Wo sehen Sie Ansatzpunkte in dieser verfahrenen Situation? Was wollen Sie tun?
Ehrlich gesagt: Am liebsten würde ich mich irgendwo in ein Bergdorf verziehen und dort mit meinen restlichen Energien im Sommer den Bauern beim Heuen helfen.
In Israel?
Nein, hier. Für mich ist eigentlich die Schweiz das Gelobte Land. Ich finde es so schön hier. Mit allem Elend, das ich hier sehe. Mir bleibt nur noch die paradoxe Hoffnung im Sinn von Erich Fromm.
Wie meinen Sie das?
Politisch sehe ich in Israel und Palästina keine Hoffnung, und dennoch mache ich weiter.
Jochi Weil (69) arbeitet seit dreissig Jahren für Medico International Schweiz, die frühere Centrale Sanitaire Suisse (CSS).