Reiche pflegen und betreuen: Da hilft die Premium-Ostdeutsche
Wenn reiche Menschen pflegebedürftig werden, bleiben sie oft zu Hause und lassen sich rund um die Uhr betreuen. Die Basler Soziologin Sarah Schilliger erforscht, was in diesem intimen Rahmen passiert.
WOZ: Sarah Schilliger, auch Reiche haben Kinder, werden krank oder alt. Wie organisieren sie Erziehung, Betreuung und Pflege?
Sarah Schilliger: Sie beanspruchen exklusive Dienstleistungsangebote. Das geht von Gebärsuiten, etwa in der Hirslanden-Klinik, über Internate wie das Institut am Rosenberg in St. Gallen bis zu Seniorenresidenzen, wie sie zum Beispiel die Tertianum-Gruppe anbietet. Es gibt einen eigenen Sektor für exklusive Care-Dienstleistungen, und er wächst zurzeit stark.
Die Reichen leben in einer eigenen Welt?
Viele von ihnen. Normalbürger und -bürgerinnen müssen, wenn sie einen Notfall haben, im Spital vielleicht stundenlang im Wartesaal sitzen. Die Reichen haben den direkten Service und machen diese Erfahrung nicht. Und in Internaten wie am Rosenberg wachsen die Kinder in Parallelwelten auf. Da geht es nicht nur um eine gute Ausbildung, sondern auch darum, die Kinder in «bessere» Kreise einzuführen und sie auf spätere Positionen vorzubereiten.
Gehen die Reichen später als andere Leute ins Altersheim?
Ich kenne keine Untersuchungen dazu. Bekannt ist, dass sie länger gesund bleiben. Möglichst lange zu Hause bleiben wollen ja alle. Aber nicht alle können sich diesen Wunsch erfüllen, weil es eine teure Angelegenheit ist, ein solches Care-Arrangement zu organisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass die ganze Alterspflege in der Schweiz höchst privatisiert und dadurch auch sozial selektiv ist.
Wieso privatisiert?
In der Schweiz übernehmen die Krankenkassen und die öffentliche Hand nur einen Teil der Pflegedienstleistungen. Alles andere – die ganzen Kosten für die Betreuung und die Hauswirtschaft – müssen die Patienten selber bezahlen. Und bei jenen, die sich das nicht leisten können, müssen halt die Angehörigen, einspringen, meistens die Frauen. Es gibt eine eindrückliche Studie dazu: Die Langzeitpflege ist in der Schweiz mit über sechzig Prozent privaten Kosten in Westeuropa mit Abstand am stärksten privatisiert. In anderen Ländern werden weniger als zwanzig Prozent privat finanziert. Und diese Studie hat nicht etwa ein linkes Institut gemacht, sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD.
Sie forschen über die 24-Stunden-Betreuung in Privathaushalten. So etwas können sich wohl nur Reiche leisten?
Ich habe schon vor allem mit reicheren Leuten gesprochen, aber es gibt auch Billigagenturen, die osteuropäische Frauen für weniger als 3000 Franken im Monat vermitteln. Das ist unter Umständen billiger als ein Pflegeheim – gerade für Menschen, die knapp zu viel Vermögen haben, um in einem Heim Ergänzungsleistungen zu bekommen. Aber bei solchen Billigangeboten ist klar, dass der Mindestlohn nicht eingehalten wird. Das sind meistens Firmen, die aus dem Ausland agieren, sogenannte Entsendeunternehmen. Sie stellen die Betreuerinnen im Herkunftsland an, zum Teil schicken sie sie auch als «Selbstständige» in die Schweiz. Der Markt für die 24-Stunden-Betreuung ist in den letzten drei Jahren gewachsen wie verrückt.
Weil es immer mehr Alte gibt?
Das ist zu einfach. Die «Basler Zeitung» hat mich kürzlich gefragt: «Frau Schilliger, was sagen Sie zum Demenz-Tsunami?» Die Demografiediskussion ist ein Bedrohungsszenario, das von anderem ablenkt: Das Wachstum hat vor allem mit dem Spardruck und der Rationalisierung in der öffentlichen Pflege zu tun. Die Spitex muss heute wie im Akkord arbeiten, mit Fünfminutentaxen abrechnen. Die privaten Agenturen bieten etwas an, was die öffentliche Spitex nicht mehr leisten kann. Und genau damit werben sie: «Wir nehmen uns Zeit für Sie, bei uns sind Sie nicht nur ein ‹Fall›.» Viele Angehörige entscheiden sich deshalb für ein privates Arrangement. Dazu kommen die gesellschaftlichen Umbrüche: Mehr Frauen sind erwerbstätig, können darum weniger Gratispflege verrichten, und eine Umverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern hat in diesem Bereich fast nicht stattgefunden.
Wie heben sich die teuren Agenturen von den billigen ab?
Die Ansprüche an die Frauen sind höher. Sie sollten deutscher Muttersprache sein. Erwartet wird eine gewisse Grundausbildung in der Pflege, aber auch sonst: Die Frauen sollen gut kochen, sich in «besseren» Kreisen bewegen können, gepflegt aussehen und auch einmal jemanden in die Oper begleiten. Es gibt auch Firmen, die haben zwei Angebote: «Premium» mit Ostdeutschen, «Budget» mit Polinnen. Exklusive Agenturen bieten ein «Matching» an: Sie schauen, in welchen Haushalt welche Frau passt. Da kostet es dann ab 13 000 Franken aufwärts im Monat.
Sind es eher Frauen aus der Unterschicht, die in die Schweiz kommen?
Nein, sie sind häufig sehr gut qualifiziert. Ich hatte mit Frauen zu tun, die ein Diplom in Agronomie, Recht oder Psychotherapie haben. Es braucht ja auch ein gewisses Know-how und Selbstvertrauen, in einem fremden Land arbeiten zu gehen. Bei Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen ist es übrigens ähnlich.
Hilft die gute Ausbildung, zu einer guten Agentur zu kommen?
Die Polinnen, die untereinander vernetzt sind, geben sich Adressen von Agenturen weiter, die etwas bessere Bedingungen bieten. Aber die Edelagenturen bezahlen oft nicht viel mehr als die billigeren. Es gibt auch teure Agenturen, die den Mindestlohn nicht einhalten.
Wie hoch ist der Mindestlohn?
18.20 Franken pro Stunde für Ungelernte, denn die 24-Stunden-Betreuung gilt als Hauswirtschaft, obwohl häufig Pflegeleistungen erbracht werden, die besser entlöhnt werden müssten. Für Kost und Logis werden 990 Franken pro Monat abgezogen. Bei einer 42-Stunden-Woche bleiben da noch rund 2300 Franken brutto. Das grosse Problem ist aber die Arbeitszeitberechnung: Viele Agenturen rechnen nur sechs Stunden Arbeit am Tag ab, wenn eine Betreuerin rund um die Uhr im Haus ist. Eine Agenturleiterin sagte mir, keine Hausfrau der Welt arbeite mehr als sechs Stunden … Ein Spaziergang mit einer Person im Rollstuhl oder auch die Rufbereitschaft in der Nacht gelten meist nicht als Arbeit. Weil die Einsätze in einem intimen Rahmen stattfinden, ist die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit fliessend, und die Agenturen nutzen das aus.
Wie sind die rechtlichen Grundlagen? In einem Behindertenheim gehört ein Spaziergang mit Rollstuhl ja klar zur Arbeit.
Die rechtliche Lage ist prekär. Es gibt einen nationalen Normalarbeitsvertrag für die Hauswirtschaft, aber der regelt nur den Mindestlohn. Dazu kommen kantonale Normalarbeitsverträge, die aber nicht zwingend sind.
Was muss sich ändern, damit sich die Situation verbessert?
Kurzfristig ist es wichtig, die Arbeitszeit zu regulieren und vor allem die Agenturen besser zu kontrollieren. Letztes Jahr hat die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation der Uno, eine «Konvention für die Rechte der Hausangestellten» verabschiedet – sie ist in der Schweiz bisher nicht ratifiziert –, die minimale Leitplanken setzt: Zum Beispiel muss eine Hausarbeiterin einmal in der Woche 24 Stunden am Stück frei haben und das Haus verlassen dürfen. Eigentlich geht es aber um Grundsätzliches: Wir sollten die Alterspflege massiv ausbauen und mehr öffentlich-solidarisch finanzieren. Dieser ganze prekäre Arbeitsmarkt etabliert sich nur, weil der öffentliche Dienst rationalisiert wird.