Porträt: 59 Tage mit und ohne
Der diplomierte Krankenpfleger Thierry Humbert-Droz träumt von einem Gesundheitswesen, in dem die Kranken im Mittelpunkt stehen. Dafür streikt er in Neuenburg gegen die Privatklinikgruppe Genolier.
59 Tage dauert der Streik in der Neuenburger Klinik La Providence bereits. «Es gibt Tage mit und Tage ohne», sagt Thierry Humbert-Droz. Die «Tage mit» liebt er: wenn die Sache vorankommt, wenn die Kolleginnen und Kollegen Feuer und Flamme sind, wenn Aktionen, Demos und Flugblattverteilen, wie etwa letzte Woche in Genf, Auftrieb und Hoffnung geben. Schwieriger sind die «Tage ohne», wenn Drohungen und Druckversuche lähmend wirken, die Spannungen zwischen den Streikenden und ihren arbeitenden KollegInnen wachsen, wenn der Gegner übermächtig erscheint.
Der Gegner ist mächtig. Er heisst Genolier Swiss Medical Network. Die zweitgrösste Privatklinikgruppe der Schweiz will La Providence kaufen, den Gesamtarbeitsvertrag aushebeln und trotzdem öffentliche Subventionen beziehen. Die Lage ist seit zwei Monaten blockiert, denn das Neuenburger Gesetz sieht vor, dass eine Privatklinik den GAV unterzeichnen muss, wenn sie Subventionen beziehen will. Die Kantonsregierung ist freilich den Forderungen von Genolier weitgehend entgegengekommen, doch im Parlament formiert sich mittlerweile der Widerstand. Das Dossier ist hochbrisant, im Frühling sind Wahlen. Genolier wartet, bis ihr die in Geldnöten steckende Klinik mitsamt Subventionen, aber ohne GAV in den Schoss fällt. Wenn da nur nicht die Streikenden wären.
Streikzelt im Stadtpark
Doch die sind da. Und lassen sich nicht vertreiben. Schon zweimal haben sie weichen müssen, zuerst aus dem Blickfeld des Spitals. Dann hat auch die Kirche sie weggewiesen, vor deren Eingang sie Zuflucht suchten. Doch immer wieder haben sie das weisse Zelt, ihr Hauptquartier, aufgebaut. Heute steht es im Stadtpark, hier versammeln sich jeden Morgen die Streikenden, eine verschworene Gemeinschaft von etwa dreissig Frauen und Männern, die sich gegenseitig Mut zusprechen, wenn es nötig ist. Denn sie sind eine Minderheit unter den Spitalangestellten, aber das heisst noch gar nichts: «In der Mehrheit ist die Mehrheit meist schweigend», weiss Thierry Humbert-Droz nun aus eigener Erfahrung.
«Dieser Streik hat mich von Grund auf verändert», sagt er. Als Sohn eines Sekretärs der Eisenbahnergewerkschaft und als Nachkomme des berühmten Jules Humbert-Droz, Sekretär der Kommunistischen Internationale und Freund Lenins, hat sich Thierry schon mit sechzehn Jahren, als junger Verkäufer bei der Migros, gewerkschaftlich organisiert. Mit zwanzig wechselte er in den Sozialbereich, seit 23 Jahren ist er nun im Pflegeberuf tätig, heute als diplomierter Hilfspfleger. «Bisher habe ich Schwierigkeiten gehabt, auf Leute zuzugehen, öffentlich das Wort zu ergreifen.» Das ist jetzt anders geworden: «Wir werden von der Linken, von den Gewerkschaften unterstützt, in diesen Kreisen fühle ich mich wohl und akzeptiert, das gibt mir das nötige Selbstvertrauen.»
Gesundheit als Kuckucksuhr
Thierry Humbert-Droz ist eine der Stützen dieses Streiks. Und einer der radikalsten Kritiker der Genolier-Gruppe. «Nie werde ich mit Genolier einen individuellen Arbeitsvertrag unterzeichnen», sagt er. «Schreiben Sie das ruhig. Einer muss es einfach einmal sagen!» Damit hat er es gesagt. Er streikt, weil Gesundheit zur Ware gemacht wird. Antoine Hubert, der starke Mann der Genolier-Gruppe, rühmte sich im Westschweizer «Téléjournal», sein Ziel sei es, aus der Gesundheit ein «Schweizer Exportprodukt wie die Banken, die Schokolade und die Kuckucksuhren» zu machen.
Humbert-Droz und seine dreissig Kolleginnen und Kollegen wollen Spitäler, in denen die PatientInnen mehr sind als nur noch «pauschal abgerechnete Fälle». Sicher, es geht um den Gesamtarbeitsvertrag, aber es geht auch gegen Genolier und gegen Hauptaktionär Antoine Hubert, einen ultraliberalen Ideologen. Wo immer man ihn befragt, predigt er Flexibilisierung und Lohndumping für die Angestellten, «Konkurrenz und Herausforderung» für das Spitalsystem.
Manchmal, wenn Humbert-Droz zwischendurch einen Moment verschnaufen kann, entwirft der Langzeitstreikende im Kopf eine Utopie für ein Spital, in dem die PatientInnen im Mittelpunkt stehen. Oder für ein Altersheim, in dem Betagte «nicht morgens um sieben geweckt, abends um sieben ins Bett gesteckt und zwischendurch verwaltet werden». Denn er hat einen Traum: «Wenn ich eine Million hätte, würde ich ein Haus kaufen und dort einen richtigen, echten Ort zum Leben für Betagte einrichten. Nicht ein Altersheim, sondern eine Altersheimat.» Doch bereits geht es weiter zur nächsten Versammlung, die Demonstration vom kommenden Samstag und die Grossratsdebatte von nächster Woche müssen vorbereitet werden.