«Überleben in der Katastrophe»: Ein Mann im Räderwerk der Geschichte

Nr. 4 –

Der Historiker Heiko Haumann erzählt die abenteuerliche Geschichte Hermann Diamanskis, eines linken Arbeiters, der allen Katastrophen des 20. Jahrhunderts trotzte.

Wurde er in Danzig geboren? Oder in Berlin? Und war das Geburtsjahr 1909 oder 1910? Nichts war klar, als Heiko Haumann begann, das Leben von Hermann Diamanski zu recherchieren. Selbst der Name gab Rätsel auf, taucht er doch in Dokumenten auch als Hermann Dimanski auf. Haumann fühlte sich teils wie in einem Labyrinth, wie er selbst sagt. Doch labyrinthisch war nicht nur der Lebensweg von Hermann Diamanski, sondern die ganze Epoche, die er durchlebte. Es ist das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der grossen Katastrophen.

Hermann Diamanski wurde 1910 geboren und starb 1976. Er war Seemann, Kommunist, Widerstandskämpfer, KZ-Häftling, Stasi-Opfer und zeitweiliger Mitarbeiter des US-Geheimdiensts. Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass er ein wechselvolles Schicksal erlitt. Ein Mann im Räderwerk der Geschichte: Wenn man Haumanns spannendes Buch liest, so wundert es einen, dass es Diamanski überhaupt geschafft hat, zu überleben. Millionen andere schafften es nicht.

Während zehn Jahren ist Haumann dem Leben von Hermann Diamanski nachgegangen. Ein dornenvoller Weg durch zahllose Archive mit vielen Rückschlägen und Überraschungen. Weshalb die Mühe? Der emeritierte Professor für Geschichte an der Universität Basel war ganz einfach fasziniert. Fasziniert davon, wie sich zentrale Aspekte der neueren Geschichte in der Biografie eines Einzelnen spiegeln. Und wie ein Mensch in die Mühlsteine der Zeitläufe geraten kann und es ihm doch immer wieder gelingt, sich ihnen zu entwinden.

Der «Zigeunerbaron»

Als sehr junger Mann fuhr Diamanski ab 1924 zur See, und bald stiess er zur gut organisierten KPD. Während er an Bord als Heizer arbeitete, führte er heimlich Antinazipropaganda mit. Diamanski war schon im Visier der Gestapo, als er sich nach London absetzte. Wie so viele AntifaschistInnen kämpfte er anschliessend in Spanien in der XI. Internationalen Brigade gegen General Franco und musste nach der Niederlage fliehen. 1940 schnappte die Falle zu, die Gestapo bekam ihn in die Hände. Nun begann ein langer Leidensweg mit Folter, KZ-Haft, SS-Terror und einem Todesmarsch, den Diamanski nur mit grossem Glück überstand.

Im Vernichtungslager Auschwitz war er ein sogenannter Funktionshäftling, der mit Aufgaben betraut war, die er zugunsten seiner LeidensgenossInnen zu nutzen verstand. Im späteren Auschwitz-Prozess gaben Betroffene an, Diamanski habe ihnen durch seine Umsicht das Leben gerettet. Gleichzeitig gehörte er dem kommunistischen Widerstandsnetz an, einer im Verborgenen aktiven Organisation, die durch gegenseitigen Beistand so manchen das Überleben in den Lagern ermöglichte. Diamanski trug den Spitznamen «Zigeunerbaron», da er im Zigeunerlager eine dominierende Stellung innehatte. Haumanns Schilderungen dieser Hölle auf Erden sind so dicht, dass sein «Held» oft darin verschwindet. Hier gewinnt die totalitär gewordene Geschichte die Oberhand über jegliche Individualität.

Nach der Befreiung war Diamanski erst 35 Jahre alt. Was sollte er tun? Die Spuren zeigen, dass er 1945 in Bad Tölz heiratete, jedoch schon wenig später vor den Scherben dieser Beziehung stand. Darauf floh er in die sowjetische Besatzungszone (die spätere DDR). Angst vor Anschuldigungen ehemaliger KZ-Insassen, er sei ein «Kapo» und an Misshandlungen beteiligt gewesen, soll ihn dazu bewogen haben, möglicherweise waren es aber auch persönliche Motive. Er heiratete erneut und erhielt einen Job bei der neuen Volkspolizei. Ein Sonderausweis als «Opfer des Faschismus» brachte ihm Vorteile. Doch als ehemaliger Spanienkämpfer und «West-Emigrant» stand er misstrauischen Behörden gegenüber. Schon bald hatte er die Staatssicherheit auf den Fersen.

Zeuge im Auschwitz-Prozess

Statt endlich einen Platz in der Gesellschaft zu finden, sah sich Diamanski erneut mit Problemen konfrontiert, die durch die geschichtlichen Ereignisse in seine Biografie eindrangen. 1953 entschloss er sich zur Flucht nach Westdeutschland und war auch bereit, mit dem US-Geheimdienst zu kooperieren, um als politischer Flüchtling anerkannt zu werden – allerdings nur für kurze Zeit. Viel länger dauerte sein Kampf um Anerkennung und Wiedergutmachung, aus dem schliesslich eine dürftige Rente resultierte. Im Auschwitz-Prozess 1964, bei dem er als Zeuge auftrat, durchlebte er eine schmerzhafte Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. Politisch indes sass Diamanski im Nachkriegsdeutschland zwischen allen Stühlen. Seine Familie konnte er mit seinem Gehalt als Zeitungsspediteur einigermassen durchbringen. Seelischen Rückhalt fand er vor allem unter ehemaligen Mithäftlingen und NS-Verfolgten. Sie waren es auch, die ihm nach seinem Tod 1976 das letzte Geleit gaben.

Heiko Haumann lässt am Beispiel Hermann Diamanskis die gewaltigen Zeitumbrüche in einem minutiös ausgearbeiteten Tableau Revue passieren. Am Schluss seines bisher wenig beachteten Buchs bleibt die Frage, was das 20. Jahrhundert eigentlich ausmachte. Und wer im Kern dieser Mensch Hermann Diamanski war, der einfache Mann und «Held» dieser Geschichte. Beide Fragen verlieren sich letztlich, aller Faktenfülle zum Trotz, im ontologischen Dunkel von Geschichte und Existenz.

Heiko Haumann: Hermann Diamanski. Überleben in der Katastrophe. Böhlau Verlag. 
Köln 2011. 440 Seiten. 53 Franken