Stefan Kellers Buch über den Fall Joseph Spring: «Die Rückkehr»

WOZ-Redaktor Stefan Keller hat Joseph Spring eine Geschichte geschrieben, die unter die Haut geht, gerade weil sie sich nicht in Schweizkritik erschöpft.

«Eine alte Konvention sagt, Bücher von Freunden solle man nicht rezensieren, das trübe die Objektivität. Da die Objektivität des Rezensenten sich normalerweise aus dem Klatsch zusammensetzt, der bei Partys und Redaktionssitzungen aufzuschnappen ist, interessiert mich diese Konvention nicht, im Gegenteil: Wenn ein Freund ein Buch schreibt, dann gehört das Buch in die Freundschaftsgeschichte, und zu einer Geschichte gehören zwei Stimmen. Buch und Rezension sind die öffentliche Seite einer Freundschaftsgeschichte, Objektivität überlassen wir den Statistikern.» Dieser Meinung des jung verstorbenen klugen Schweizer Autors Rudolf M. Lüscher bin ich auch, so habe ich keinerlei Skrupel, Stefan Kellers Buch «Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte» in der WOZ zu rezensieren.

Den Nazis ausgeliefert

Die WOZ hat mehr als einmal über die Geschichte des Joseph Spring berichtet, zuletzt aus Anlass des über die Schweiz hinaus beachteten Wiedergutmachungsverfahrens, das Spring Anfang 2000 vor dem Bundesgericht in Lausanne angestrengt - und verloren - hatte. Zusammen mit seinen Cousins Sylver und Henri Henenberg war der damals sechzehnjährige Joseph Spring im November 1943 von der Schweizer Polizei nach einem illegalen Grenzübertritt von Frankreich aus aufgegriffen und hinter der Grenze direkt der deutschen Gestapo übergeben worden, der von den wackeren Schweizer Beamten auch gleich die Auskunft mitgeliefert wurde, dass es sich bei den scheinbar «arischen» Flüchtlingen um Juden handle.

Die drei jungen Männer hatten Schweizer Boden erreichen wollen, weil sie sich in dem seit Ende 1942 von der deutschen Wehrmacht vollständig besetzten Frankreich, wohin sie zuerst geflüchtet waren, nicht mehr sicher fühlten. Dank Schweizer Amtskollaboration landeten sie jedoch im Deportationszug. Die Cousins Henenberg wurden gleich nach der Ankunft im Lager Auschwitz ins Gas geschickt.

Sklaven bei I. G. Farben

Joseph Spring hatte Glück: Er wurde, von einem Mithäftling rasch als Schweisser angelernt, zur Zwangsarbeit im Chemiewerk des Konzerns I. G. Farben eingeteilt.

Ich habe Stefan Kellers Buch, verfasst nach vielen Gesprächen mit dem seit 1946 in Australien lebenden Spring, geradezu atemlos verschlungen. Waren mir viele Einzelheiten auch neu, so konnte ich die historischen Umstände dieser unwahrscheinlichen Überlebensgeschichte aufgrund vorausgegangener Beschäftigungen recht gut einordnen. Die Geschichte des Schriftstellers Jean Améry war dabei äusserst hilfreich: Der aus Österreich stammende Améry hatte wie die Spring-Verwandten Henenberg zunächst in Belgien Unterschlupf gefunden und war nach seiner Deportation nach Auschwitz ebenfalls als Arbeitssklave ins Buna-Chemiewerk der I. G. Farben gesteckt worden.

Die Lektüre von Stefan Kellers «Die Rückkehr» ist somit sowohl eine Wiederbegegnung mit Vertrautem, einschliesslich des verflucht vertrauten Grauens der Lager, als auch Erfahrung von ganz und gar Neuem: gute Bedingungen für ein Lesen, das Hirn und Herz bewegt.

Sowohl Jean Améry als auch Primo Levi haben über ihre Leidenszeit im Bunawerk geschrieben. Beide kamen als erwachsene Männer nach Auschwitz, Améry als literarischer Intellektueller, Levi als frisch promovierter Chemiker und dazu politisch motivierter Widerstandskämpfer. Ihre Berichte sind deshalb stark von den Erfahrungen ihres Vorlebens mitgeprägt. Joseph Spring dagegen war, als er in Auschwitz eintraf, ein gerade der Pubertät entwachsener Junge. In seinen Erinnerungen ist deshalb vor allem von dem die Rede, was er im Lager gesehen und gehört hat; er selbst war sich dagegen kaum ein Thema, das sich vor seine Wahrnehmungen hätte schieben können. Springs Mitteilungen liefern somit eine ausserordentlich wertvolle Ergänzung dessen, was Améry, Levi und andere Zeitzeugen vom KZ und von der Zwangsarbeit bei I. G. Farben in Auschwitz berichtet haben.

Anständiger Funktionshäftling

Unvergesslich nach der Lektüre des ganzen Buchs bleibt für mich das Porträt des jüdischen Funktionshäftlings Walter Peiser, wie Spring es in seinen Erinnerungen zeichnet. Peiser machte sich einerseits durch sein zeichnerisches Talent bei der SS unentbehrlich, auf der anderen Seite half er seinen Leidensgenossen, wo er nur konnte - in erster Linie dem jungen Spring, den er als seinen Schützling behandelte und unter anderem vor den im Männerlager üblichen homosexuellen Nachstellungen bewahrte. Wenn im KZ, wie Imre Kertész schrieb, das Böse der Normalfall ist und das Gute die unwahrscheinliche Ausnahme, so handelt dieser Überlebensbericht, und das ist seine trotz allem versöhnliche Botschaft, von sehr viel Unwahrscheinlichem.

Nicht jeder, der als anständiger Mensch ins KZ kam, bemerkt Spring heute, ist das auch geblieben; beim als Schreiber eingeteilten Funktionshäftling Peiser spielte sich jedoch eine gegenläufige Entwicklung ab. Als Berliner Bohemien und politisch uninteressierter Luftikus in die KZ-Welt verfrachtet - und zwar wegen so genannter Rassenschande -, reifte er dort zu einem mitmenschlich fühlenden und verantwortlich handelnden Mann heran, der es ausserdem verstand, SS-Personal für seine Zwecke einzuspannen und zu manipulieren. Die Geschichte Walter Peisers, der wie Spring sowohl Auschwitz als auch den Evakuierungsmarsch Richtung Westen im eiskalten Januar 1945 überlebte, zählt für mich zu den bewegendsten Passagen des Buchs.

Eine Person erscheint

Dass ein in der Schweiz veröffentlichtes Buch über die Spring-Geschichte der juristischen und politischen Seite der Wiedergutmachungsaffäre viel Platz einräumt, versteht sich von selbst. Anhand zahlreicher zitierter Dokumente zeichnet Keller auf eine auch für juristische und historische Laien nachvollziehbare Weise die einzelnen Etappen der Wahrheitsverdrehung nach, auf die Bundesrat und Bundesrichter zurückgriffen, um den Staat Schweiz von dessen mit blossem Auge erkennbarer Verantwortung für das Spring und seinen Cousins 1943 angetane völkerrechtswidrige Unrecht freizusprechen. Keller liefert hier kritische Aufklärung im allerbesten Sinn.

Seine grosse, auch im literarischen Sinn herausragende Leistung besteht für mich jedoch in etwas anderem. Gerade dann, wenn Kritik an Schweizer Lebenslügen in den Mittelpunkt rückt, besteht die Gefahr, dass der betroffene Mensch, in diesem Fall Joseph Spring, sich in ein Instrument dieser Kritik verwandelt, gar auf den «Juden» reduziert wird. Stefan Keller hat dieser Gefahr dadurch zu begegnen verstanden, dass er eine Darstellungstechnik fand, die Springs Person und Individualität zu ihrem Recht kommen lässt. Montageartige rasche Schnitte bringen Tempo und Leben in den klar, doch nie schematisch strukturierten Text, in dem sich der Autor ganz zurücknimmt zugunsten der Konzentration auf Springs Geschichte. Daher kann ich «Die Rückkehr» nicht nachdrücklich genug zur Lektüre empfehlen.