Fumoir: Falsch abgebogen
Ruth Wysseier über gefährdete und gefährliche Frauen
Wer wie ich mit einem fast inexistenten Orientierungssinn geboren wurde, lernt im Lauf der Zeit, dass auch Umwege meist zum Ziel führen. Natürlich ist das oft peinlich oder ärgerlich, aber da weder Übung noch Lamentieren an der Ausgangslage etwas ändern, ist das wirksamste Rezept eine Prise Selbstironie. So erzähle ich zum Beispiel gern, dass ich niemals Tramchauffeuse in Zürich hätte werden können, weil unter meiner Führung sogar ein so schweres Fahrzeug aus den Schienen springen und auf nebulösen Wegen in Bern landen würde. Und obwohl ich kräftig bin, hätte ich mir nie eine Karriere als Bodyguard erträumt, denn dafür bräuchte es ebenfalls eine gute Orientierungsgabe, wie ich kürzlich beobachten konnte.
Da stand ich also nach Eröffnungsreden und -film an den Solothurner Filmtagen in einer langen Schlange auf der Treppe, über die man durch Betonkorridore zu den WC-Anlagen im Soussol der Solothurner Reithalle gelangt. Vier Köpfe vor mir wartete Sämi Schmid, nur zwei Köpfe entfernt die geladene Rednerin, Simonetta Sommaruga, und direkt vor mir ihre Leibwächterin, eine grosse Frau in Dunkelblau. Sachkundig – den Film «Bodyguard» habe ich zweimal gesehen – nahm ich zur Kenntnis, dass sich die Frau wartend-beobachtend ans Lavabo lehnte, nachdem die Justizministerin in einer Kabine verschwunden war. Nach erledigtem Geschäft verliess ich den Vorraum und traf zu meinem Erstaunen auf die Bodyguardistin, die hektisch nach rechts abbog. Sie wusste offensichtlich weder, wo es hinausgeht, noch, wo ihre Bundesrätin war. «Zur Treppe geht es nach links», rief ich ihr ungewohnt selbstsicher zu. Sie kehrte um, eilte mir nach, die Treppe hinauf, fragte den dort postierten Sicherheitsbeamten: «Ist sie schon gekommen?», und als der verneinte, rannte sie auf der Suche nach der Unbeschützten wieder hinunter.
Ich zögerte lange, diesen Vorfall zu verpetzen, da ich naturgemäss viel Verständnis für Orientierungslose habe. Aber im Interesse der nationalen Sicherheit möchte ich der Justizministerin doch ans Herz legen, diese Bewacherin künftig eher an administrativer Stelle einzusetzen. Nicht, dass der Bundesrätin unter den Filmleuten spezielle Gefahr gedroht hätte, die Bewachung ist wohl Routine bei angekündigten Auftritten, und ihre Rede war freundlich aufgenommen worden. Wer könnte ihr Böses wollen? Die Leidtragenden ihrer Politik sitzen hinter Schloss und Riegel oder wurden ausgeschafft, und sie ist ja keine Hardlinerin, bestimmt tut sie als Sozialdemokratin ihr Möglichstes. Sie vergass jedenfalls nicht zu erwähnen, dass es nicht einfach gewesen sei, sich nach Fernand Melgars Film über das Ausschaffungsgefängnis Frambois der Kritik zu stellen. Und ihr Amt wird sicher nicht leichter, jetzt wo die notorische Natalie Rickli wieder genesen ist und der Öffentlichkeit ihr Burn-out mit Frust über die lasche Ausschaffungspolitik begründete.
Es ist auch nicht so, dass ich alle Orientierungsgenies hasse. Ruth Humbel etwa kann ich zwar nicht ausstehen, aber nicht, weil sie noch mit über fünfzig OL-Weltmeisterin wurde, sondern wegen ihrer unchristlichen Gesundheitspolitik. Sie fördert die Entsolidarisierung und fordert seit Jahren, dass alle, die nicht so gesund leben wie sie und keine Zahnstocherfigur haben, von den Krankenkassen finanziell bestraft werden sollten. Hat sie sich schon einmal überlegt, wie unsolidarisch es ist, so gesund zu leben? Und dann steinalt zu werden? Und im Altersheim herumzumeckern auf unsere Kosten, bis sie 120-jährig ist? Da sieht doch jede Orientierungsniete, dass diese Frau komplett falsch abgebogen ist.
Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.