«Das Verschwinden des Philip S.»: Wie aus einem Leben im «als ob»
Von der Revolte in den Terrorismus: Ulrike Edschmid, ehemalige Lebensgefährtin von Philip Werner Sauber, der 1975 in Köln durch Polizeikugeln starb, begibt sich ins Sperrgebiet der Erinnerung.
Kaum eine Generation hat schon zu Lebzeiten mehr zu ihrer Legendenbildung beigetragen als die der Achtundsechziger. Je verbissener ihr militanter Ausläufer – die überlebenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) – das Schweigegebot befolgt, desto redseliger werden die, die an den ausgefransten Rändern dieser Mythen treibenden Selbstermächtigung standen. Als letzte StellvertreterInnen des «heroischen Zeitalters» beklagen sie das nicht eingelöste Potenzial der Bewegung – oder sie erklären genau dies zum Glücksfall der «historischen Konstellation»: weil aus ebensolcher Entfaltung «Schlimmes» zu erwarten gewesen wäre. Wie immer man diese zunehmend historisierenden Selbststilisierungen beurteilen mag: Die Inventare dieser Zeit sind gut gefüllt – ihre Stoffe werden auf Halt- und Verwertbarkeit gesichtet.
Die Stimmung des Augenblicks
Auch die Schriftstellerin Ulrike Edschmid, die vor über fünfzehn Jahren mit Porträts über die RAF-Frauen Katharina de Fries und Astrid Proll das Phänomen «Frau mit Waffe» (1976) ausleuchtete, unternimmt einen neuerlichen Annäherungsversuch, fast schon eine Selbstaussetzung. Als ehemalige Lebensgefährtin von Philip Werner Sauber, dem 1967 aus Zürich nach Berlin eingewanderten Künstler, der unter nie völlig geklärten Umständen 1975 in Köln um sich schoss und durch Polizeikugeln starb, tritt sie nicht nur als Chronistin, sondern auch als Zeugin in eigener Sache auf – im Bewusstsein, dass «alle Versuche, Jahre später etwas auf den Begriff zu bringen, was in der Stimmung des Augenblicks entstanden ist, zu falschen Worten und zu falschen Sätzen führen».
Als die 27-Jährige 1967 den zwanzigjährigen «Cineasten mit hohem Anspruch» an der Berliner Film- und Fernsehakademie trifft, ist der Student Benno Ohnesorg an einer Demo gerade von einem Polizisten erschossen worden – in der Stadt ist nichts mehr wie davor. Geflohen vor dem wohlhabend-puritanischen Elternhaus und nach einem Intermezzo in der Zürcher Boheme, verschlägt es Sauber nach Berlin, wo er seine ästhetischen Vorstellungen verwirklichen möchte. Mitstudierende wie das spätere RAF-Mitglied Holger Meins, der eine Zeit lang mit dem Paar in einer Fabriketage in Berlin-Schöneberg wohnen wird, gehören da bereits zur konkurrierenden Fraktion, die die «Kunst als Waffe» eingesetzt sehen will.
Philip S., wie er in Edschmids Buch genannt wird, übernimmt Verantwortung für den kleinen Sohn seiner Freundin und engagiert sich neben der Arbeit an seinem Erstlingsfilm in der Kinderladenbewegung. Man fährt auf Filmfestivals nach Italien, unbeschwert noch – aber schon im Wissen, nicht nur «freie Inseln» zu suchen «in einer unfreien Welt». Aber schon in Italien ist Philip S. eher «der einsame Wanderer», den er in seinem verrätselten Film auf den Weg schickt.
Der Dokumentarfilmer Harun Farocki wird den Dreissigminutenstreifen später als den «erstaunlichsten» und «schönsten Film loben, der damals entstanden ist».
Erhellend kühl
Das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke im Jahr 1968 wirkt wie eine Zäsur. Wie viele andere radikalisiert sich das Paar. Die Auseinandersetzungen an der Akademie führen zur Relegierung von neunzehn Studierenden, darunter auch Philip S. In der Fabriketage richtet er ein «Studio für Gegenöffentlichkeit» ein, weil es ihm nun nicht mehr um Bildästhetik geht, sondern «um das, was hinter den Bildern steckt». Es ist eine Zeit des Aktionismus, der die Affekthaushalte mobilisiert. Ständige Razzien und Verhaftungen, Zonen der Unsicherheit, zunehmender Gewalt und des Misstrauens. Schliesslich landen auch Philip S. und die Autorin einen Monat im Gefängnis: «Ich habe die Gefahr nicht erkannt», schreibt Edschmid rückblickend.
Was sie schon als Teilhabende empfindet, nämlich sich «wie in einer Szene in einem Film» zu bewegen, entwickelt sie zum Stilprinzip ihres «Romans»: Der vor- und zurückblendende Bericht ist gerade wegen seiner poetischen Kühle viel erhellender als manche Suada ehemaliger KombattantInnen. Ohne je die Grenzen zur Intimität zu überschreiten, rekonstruiert sie die Zürcher Kindheit des Gefährten, versetzt sich zurück in die Schöneberger Zeit, als sie noch nicht weiss, aber fühlt, dass alles ein Leben im «als ob» ist.
Denn Philip S., der die Räume nur hergerichtet hat, ohne sie zu bewohnen, zieht sich mehr und mehr zurück, trainiert «seine Begabung für ein Leben im Untergrund». Während sie sich nach der Haft geschworen hat, sich nie mehr für etwas einsperren zu lassen, für das sie «nicht geradestehen kann», ist er «nur rausgekommen, um wegzugehen». Ihre Liebe wird zum «Geheimbund» – und die Komplizenschaft zur Bedrohung, verbunden mit der allgegenwärtigen Figur des Verrats.
Das endgültige Untertauchen und die Schiesserei in Köln hat die Autorin nicht mehr miterlebt. Die Wege hatten sich schon getrennt, als Philip S. den ästhetischen durch den «heroischen Auftrag» ersetzte. «Er tut es ohne Not», schreibt Edschmid im Rückblick.
Sie hat ihn nicht zurückgehalten. Aber es dauerte ein halbes Leben, bis sie die Sperrgebiete der Erinnerung wieder betreten kann.
Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Suhrkamp Verlag. Berlin 2013. 157 Seiten. Fr. 22.90