Ulrike Edschmid: Von einem, der nie dazugehören wird

Nr. 33 –

Familienkrimi und Milieubild jüdischer Einwandererschicksale: Auch für ihren neuen Roman «Levys Testament» schöpft Ulrike Edschmid aus dem eigenen Leben.

Ulrike Edschmid dosiert die Informationen sorgfältig, die sie den LeserInnen gibt, und erhält so die Spannung bis zum Schluss aufrecht. Foto: Sebastian Edschmid, Suhrkamp Verlag

Es gibt nur wenige AutorInnen, die wirklich «ich» schreiben können, ohne dass sie sich hinter einer Fiktion verstecken, pathetisch wirken oder sentimental. Eine davon ist Ulrike Edschmid, die in fast jedem ihrer Bücher zu diesem Pronomen greift. Nicht weil sie sich herausstellen wollte, sondern weil sie, wie sie einmal in einem Interview mit der WOZ sagte, nur über das schreiben könne, was sie kenne (siehe WOZ Nr. 34/2017 ). Aus den bewegten Zeiten, die hinter der 1940 geborenen Schriftstellerin liegen, die auch eine der ersten Absolventinnen der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin war, hat sich reichlich biografischer Stoff angesammelt. Am bekanntesten geworden ist ihre Verbindung mit dem aus der Schweiz stammenden Filmstudenten Werner Sauber, der sich der radikalen «Bewegung 2. Juni» angeschlossen hatte und von der Polizei erschossen wurde («Das Verschwinden des Philip S.», 2013).

Raus aus Berlin

Auch ihr neustes Buch «Levys Testament» führt zurück in die siebziger Jahre, wieder spielen Fotografien eine Rolle, die, wie so oft bei Edschmid, nicht nur Anstoss, sondern geradezu handlungsführend sind. In diesem Fall sind es die Familienbilder des namenlosen Geliebten, der nur als «der Engländer» firmiert, die bei einem Elternbesuch im Londoner Arbeiterviertel Wembley aus einer Kiste geholt werden. Eines davon wird den Protagonisten «wie eine Beschwörung» begleiten. «Du wirst nie dazugehören. Du bist ein Jude», hat die Mutter, Leah, dem Engländer mit auf den Weg gegeben und meinte damit mehr als nur seine jüdische Abstammung: auch die aus Polen stammende Familie ihres Mannes Joseph. Mit seinem Vater, «Ginger Joe» genannt wegen der roten Haare, verbindet den einsam und ärmlich aufwachsenden Jungen einzig die Liebe zu Tottenham Hotspur, jenem proletarischen Fussballklub, für den die Arbeiterjugend brennt. Noch als Student schämt sich der Engländer für seine Armut, bis diese von der Linken zum politischen Programm erhoben wird.

Die Skizze dieser von schwarzen Flecken bestimmten Familiengeschichte erfährt die Erzählerin während einer Busfahrt durch London im Winter 1972. Eigentlich besucht sie ein Filmfestival, weil sie raus aus Berlin will, «aus dieser Stadt, wo die Vorsicht mich wie ein Panzer umschliesst» und wo die Polizei nach ihrem untergetauchten früheren Lebensgefährten fahndet. Den Engländer hat sie in einem besetzten Haus kennengelernt, sie besucht mit ihm den Prozess im berüchtigten Gerichtsgebäude Old Bailey gegen die «Stoke Newington Eight», eine linksanarchistische Gruppe, der ein Bombenattentat auf das Haus eines Ministers zur Last gelegt wird. Beim Verlassen des Gerichts, erinnert sich die Erzählerin, «erfahren wir unsere Freiheit jedes Mal als schmerzliches Glück, das am seidenen Faden hängt».

Als die Beziehung intensiver wird, beschliesst der Engländer, nach Berlin zu übersiedeln, später geht das Paar nach Frankfurt, wo er – es ist die Zeit der Häuserkämpfe im Westend – als linker Aktivist in verschiedenen Betrieben arbeitet und agitiert. Doch nach zwei Jahren «lässt er die Liebe nicht mehr in meinen Halbschlaf» hinein, er «kann nicht wohnen», ist überall im Durchgangsmodus, Tottenham wird sein einziger Halt. Es ist das Schweigen seines Vaters, das ihn «aus der Geschichte seiner Herkunft ausschliesst» und ihm «überall den Boden wegzieht». Dessen «they did not look after me» – der einzige Satz, den Joseph je über seine Familie hat fallen lassen – liegt vierzig Jahre wie ein Fluch über dem Sohn.

Ein Testament, das Weichen stellt

Diesen ersten Teil der Geschichte begleitet die Ich-Erzählerin noch als teilnehmende und betroffene Beobachterin im Erzählpräsens. Von der zweiten, nach der Trennung liegenden Zeit berichtet sie aus der Ferne in mittelbarer Vergangenheit vom allmählichen Aufstieg des Engländers als Initiator des ersten deutschen Immigrantentheaters bis zum bekannten Regisseur, der mit Mauricio Kagel, Hans Werner Henze und anderen Grössen der Neuen Musik zusammenarbeitet. Der Tod Josephs und der Anruf einer Cousine, der ihm die Tür zur väterlichen Familie öffnet, wird zum Wendepunkt der Erzählung, die nun über drei Generationen bis zu Lewis Grann, Urgrossvater des Engländers, und dessen Testament zurückführt. Enthüllt wird ein Familienkrimi, der erklärt, weshalb für den Patriarchen Levy, der in England zu Lewis wurde, «weder Grossvater Jakob noch Joseph jemals existiert» haben und sein Testament die Weichen für das Leben des Engländers gestellt hat.

Ulrike Edschmid gelingt es, die Spannung, die sich aus dieser Konstellation ergibt, in 49 Kurzkapiteln mittels dem Film nachempfundener Vor- und Rückblenden und sorgsam dosierter Informationen bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Allerdings stellt sie ihre Rolle als Chronistin vor Herausforderungen, weil die im zweiten Teil eröffnete Vorstellungsebene nicht erlebt ist, sondern nur imaginiert wird und streckenweise zum Protokoll gerinnt. Die beiden Teile klaffen auseinander und werden nur zusammengehalten durch die Verhaltenheit und Diskretion einer Prosa, die nie auf Effekte zielt und in diesem Fall ein ungewöhnliches Milieubild jüdischer EinwanderInnenschicksale hervorbringt.

Ulrike Edschmid: Levys Testament. Roman. Suhrkamp Verlag. Frankfurt 2021. 144 Seiten. 30 Franken