Nothilfe: Die Solikarte vor dem Aus?
Das solidarische Cumuluspunkte-Sammeln zugunsten von Asylsuchenden und NothilfebezügerInnen ist beliebt. Doch nun will die Migros das Projekt in seiner jetzigen Form stoppen.
Man kann von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Seit ihrer Einführung kamen mithilfe der solidarischen Migros-Cumuluskarte Gutscheine im Wert von 43 000 Franken zusammen. Und seit die Solikarte vor zwei Wochen der WOZ beilag, sind bei den InitiantInnen fast hundert Bestellungen für weitere Strichcode-Aufkleber eingegangen. Das mag mitunter am Konzept liegen, das bestechend einfach ist: Wer den Strichcode an der Migros-Kasse vorzeigt, überweist die ihm zustehenden Cumuluspunkte automatisch auf das Konto Solikarte – und wahrt dabei Anonymität bezüglich der getätigten Einkäufe. Alle zwei Monate zahlt die Migros die Punkte in Form von Bargutscheinen aus, die die Organisation dann an Asylsuchende und NothilfebezügerInnen abgibt.
Die Idee dazu kam der Erfinderin Debora Buess, als sie selbst an der Migros-Kasse jobbte und tagtäglich hundertfach Cumuluskarten über den Leser zog. Sie begann, den Strichcode ihrer Karte an FreundInnen im Raum St. Gallen zu verteilen und spendete die erhaltenen Gutscheine dem Solidaritätsnetz Ostschweiz. Das war im Jahr 2009.
Heute kommt der Erlös der Solikarte NothilfebezügerInnen in allen Teilen der Deutschschweiz zugute. Und es wird immer mehr: Kamen für die Monate August und September letzten Jahres Gutscheine im Wert von rund 3000 Franken zusammen, so waren es für Februar und März schon über 13 500 Franken.
Die Solikarte ist in Regionalgruppen organisiert, die Gutscheine werden proportional zum Erlös verteilt, der in den regionalen Migros-Genossenschaften generiert wird. Spitzenreiterin ist die Gründungsregion Ostschweiz, wo ein Drittel aller schweizweit gesammelten Punkte herkommt, gefolgt von Bern und Zürich. Im Tessin und in der Romandie werden zwar bereits einige wenige Solikartenpunkte gesammelt, die entsprechenden Regionalgruppen befinden sich derzeit jedoch erst im Aufbau.
Poulet und Bastelmaterial
Die Regionalgruppen verteilen die Bargutscheine nicht selbst, sondern arbeiten mit lokalen Organisationen zusammen, die sich im Asyl- und Migrationsbereich engagieren. Diese geben die Gutscheine in den meisten Fällen direkt an NothilfebezügerInnen weiter. Alexandra Müller vom Solidaritätsnetz Zürich verteilt die Gutscheine an Menschen, die in den kantonalen Nothilfezentren untergebracht und ihr aus Deutschkursen und von den Mittagstischen bekannt sind. Familien erhalten Gutscheine im Wert von 100 bis 120 Franken, Einzelpersonen solche im Wert von 30 bis 50 Franken. «Foodstuff», antwortet Dennis aus Kamerun auf die Frage, wofür er die Migros-Gutscheine verwende. Brot, Reis, Poulet – elementare Grundnahrungsmittel, für die die staatliche Nothilfe kaum ausreicht. «Es wäre schön, ich könnte irgendwann einmal allen Nothilfebezügern einen Gutschein abgeben», sagt Alexandra Müller.
Im Kanton Aargau werden die Gutscheine nicht nur direkt abgegeben, sondern auch für Essenspakete verwendet oder für zusätzliches Material an den Bastelnachmittagen für Kinder. «Wir haben die erste Tranche Gutscheine diesen Februar erhalten und stehen in dem Projekt noch ziemlich am Anfang», sagt Patrizia Bertschi, Präsidentin des Netzwerks Asyl Aargau, weitere Verwendungszwecke würden derzeit geprüft. In Luzern wurden bislang noch keine Gutscheine ausgegeben, «wir möchten die Zusammenarbeit auf ein solides Fundament stellen, bevor wir mit der Vergabe beginnen», sagt Cora Dubach aus Zürich, Mitinitiantin der Solikarte.
Was wächst und gedeiht, könnte jedoch ein jähes Ende finden. Schon im vergangenen Sommer wollte die Migros das Solikartenkonto sperren lassen – mit der Begründung, dass der Verwendungszweck gegen die allgemeinen Geschäftsbedingungen verstosse. Dank einer Petition und des grossen Medienechos beschloss das Unternehmen, die Karte weiterhin zu dulden. Nun aber teilt die Medienstelle der Migros auf Anfrage mit, dass sie gedenke, die Solikarte im Herbst 2013 in die Liste der «offiziell empfohlenen Spendenorganisationen» aufzunehmen. Faktisch wäre das der Tod der Solikarte in ihrer jetzigen Form. KundInnen müssten eine Cumuluskarte beziehen und die bezogenen Punkte selbst an die Solikarte spenden – unter Preisgabe ihrer Einkaufsgewohnheiten. Die Migros begründet dies unter anderem damit, dass die KundInnen nicht über den Rückruf von Produkten benachrichtigt werden könnten und auf verschiedene Vorteile verzichten müssten.
Wo bleibt die Debatte?
«Grundsätzlich», sagt Mitinitiantin Cora Dubach, «ist es sehr begrüssenswert, wenn uns die Migros in die Liste der offiziellen Spendenorganisationen aufnimmt. Wir werden in einem noch anstehenden Gespräch versuchen, die Migros davon zu überzeugen, dass die jetzige Solikarte parallel dazu weiter existieren darf.»
Es ist fraglich, ob die Erfolgsgeschichte der Solikarte weitergehen würde, wenn die Punkte nicht mehr unkompliziert und anonym gesammelt werden könnten. Obwohl die Initiantinnen in dieser Unkompliziertheit auch Probleme verorten: «Ich wünschte, dass die Solikarte auch eine Debatte anstossen würde über die prekären Lebensumstände, die Asylsuchende und Nothilfebezüger erdulden müssen», sagt Debora Buess. Das sei bisher zu wenig der Fall gewesen. «Ich bin mir manchmal nicht ganz sicher, ob alle Leute wissen, wofür sie die Cumuluspunkte genau spenden. Aber letztlich sind wir froh um jede Person, die Punkte sammelt.»
Ein M schlechter: Nachtrag vom 29. August 2013
Bis anhin war es ein Kinderspiel, sich beim Einkauf solidarisch zu zeigen: indem man mit der Solikarte Punkte für jene sammelt, die sie mehr brauchen als man selbst. Mit einem Strichcodekleber, der auf jeder beliebigen Karte im Portemonnaie angebracht werden kann, werden in den Migros-Filialen Cumulus-Punkte gesammelt, die auf ein zentrales Konto fliessen. Die Bons, die für die Punkte ausgehändigt werden, gehen anschliessend an regionale Asyl- und Migrationsorganisatio- nen, die sie an NothilfebezügerInnen verteilen. Diesem Treiben will die Migros nun zum wiederholten Mal ein Ende bereiten.
Bereits kurz nach Lancierung der Solikarte 2009 hatte die Migros etwas gegen die Idee. Zwei Jahre später, drohte die Sperrung der Karte, da sie gegen die Geschäftsbedingungen verstosse. Nur auf Drängen der Bevölkerung und aufgrund eines breiten Medienechos blieb das System bestehen. «Als wir die Zusicherung der Migros bekamen, haben wir uns extrem gefreut», so Mitinitiantin Debora Buess. Mit viel Herzblut und Freiwilligenarbeit hat sich ihr Team um die Ausarbeitung des Projekts gekümmert. Trotzdem will die Migros die Solikarte nun auf März 2014 sperren lassen.
Technische Probleme und Neuerungen seien der Grund für den Entscheid, so die Migros. Buess kann den Umschwung nicht nachvollziehen: «Für uns war das wie ein Schlag ins Gesicht.» Viele Organisationen seien abhängig von den Geldern. Pro Monat werden von mehreren Tausend SpenderInnen um 13 000 Franken gesammelt. Dass die Solikarte ins offizielle Spendenprogramm der Migros aufgenommen wird, ist für Buess keine Alternative. Man habe bewusst keine Adressen gesammelt, denn wer mit der Solikarte spenden will, bleibt anonym. Für die Migros geht so ein grosser Teil der Daten verloren, die die Firma für gezielte Werbung und Lenkung der KundInnen verwendet. Doch Buess gibt sich kämpferisch. «Ich will mir gar keine Gedanken machen, was passiert, wenn die Migros nicht einlenkt. Ich bin überzeugt, dass wir eine Lösung finden.»
Bereits jetzt hagelt es Protestmails, in den sozialen Medien versuchen die Kommunikationsbeauftragten der Migros, gegen die Welle der Entrüstung anzukommen. Die Solidarität geht über die Migros-Kasse hinaus.
Tirza Gautschi