Pflege: «Vollzeit wär das nicht zu schaffen»

Nr. 17 –

Unter Zeitdruck alte Leute waschen oder Katheter legen, Überstunden und tiefer Lohn: Die Arbeit bei der Spitex ist hart – dennoch macht sie Eveline Thalmann sehr gerne.

Eveline Thalmann bei der Betreuung: Die Liste der Aufgaben ist lang.

Eveline Thalmanns Arbeitsalltag beginnt morgens im Büro der Spitex Speicher-Trogen-Wald im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Auf der Planungstafel schaut sie nach, welche KlientInnen sie besuchen wird. Sie liest sich rund eine Viertelstunde in die PatientInnengeschichten ein, die täglich ändern können: Hat sich der Gesundheitszustand verändert? Müssen die Medikamente anders dosiert werden? Braucht es spezielle Hilfsmittel? Wenn Thalmann auf dem neusten Stand ist, richtet sie das benötigte Material her und checkt ab, welches Auto ihr zugeteilt wurde. Dann fährt sie los.

Den Körper der KlientInnen waschen, Betten herrichten, Spritzen setzen, Verbände anlegen, Blutdruck messen, Medikamente richten oder abgeben, allgemeine Zustandskontrolle … Die Liste der Aufgaben einer Spitex-Pflegerin ist lang. Hinzu kommen seltener vorkommende Tätigkeiten wie Infusionen anhängen, Katheter legen oder die Anwendung von Einläufen. Pflegefachfrauen der Spitex sind gut ausgebildet und tragen viel Verantwortung.

Zehn und mehr Stunden

«Ich arbeite sehr gerne bei der Spitex», sagt die 44-jährige gelernte Kinderkrankenschwester. «Im Spital wollte ich nicht mehr arbeiten. Jetzt kann ich zu den Leuten nach Hause gehen, in ihr Umfeld, arbeite selbstständig und kann die Klientinnen und Klienten individuell betreuen.» Individuell heisst aber nicht, dass Thalmann sich die Zeit frei einteilen kann. Für längere, aufmunternde Gespräche mit den PatientInnen fehlt die Zeit. «Obwohl solche Gespräche wichtig wären, sprengen sie den Rahmen. Alle meine pflegerischen Tätigkeiten sind einem genau festgelegten Zeitplan unterstellt.»

Als junge Frau wollte Thalmann nach ihrer Ausbildung im Kinderspital erst einmal weg von der Spitalarbeit und arbeitete ein Jahr lang in einer heilpädagogischen Schule als Klassenhilfe. Als dann ihr Sohn und später ihre Tochter zur Welt kamen, blieb sie vorerst zu Hause bei den Kindern, ihr Partner erarbeitete den Lohn. Ein paar Jahre später tauschten sie die Rollen, und Thalmann begann, in einer sozialpädagogischen Wohngruppe mit Mädchen und jungen Frauen zu arbeiten, die sexuell missbraucht worden waren. Danach arbeitete sie sieben Jahre als Pflegerin bei der Kinder-Spitex und mittlerweile dreieinhalb Jahre in ihrem jetzigen Job bei der Erwachsenen-Spitex.

«Vor etwa eineinhalb Jahren hatten wir eine sehr stressige Zeit. Es gab viele Patienten, die im Sterben lagen, und gleichzeitig einen Personalengpass. Wir leisteten so viele Überstunden, dass wir diese nicht mehr kompensieren konnten und sie uns auszahlen lassen mussten.» Oft hätten sie Arbeitstage mit zehn und mehr Stunden gehabt, die Unzufriedenheit unter den Spitex-Angestellten sei gross gewesen. «Es wird von uns ohnehin schon sehr viel Flexibilität verlangt. Es ist kein Zufall, dass hier niemand zu hundert Prozent arbeitet, die Arbeit ist so streng, dass man das auf Dauer gar nicht schaffen würde.»

«Grosse Befürchtungen»

Zurzeit sei allerdings das Gegenteil der Fall. Wenig Arbeit, viele Minusstunden. Niemand wisse genau warum, bisher sei das nie ein Problem gewesen. Was ebenfalls niemand von den Angestellten der Spitex Speicher-Trogen-Wald weiss: Wie wird sich die für den Sommer dieses Jahres angekündigte Fusion mit den Spitex-Vereinen von Herisau, Waldstatt, Urnäsch und Schwellbrunn auf die Arbeitsbedingungen auswirken? Thalmann: «Die Unsicherheiten und Befürchtungen im Team sind gross. Die Informationen fliessen spärlich, was die Ängste zusätzlich schürt. Wir erfahren kaum Konkretes, vonseiten der Leitung heisst es, dass es kaum Veränderungen geben wird.»

Sicher sei, dass es neue Verträge geben werde. Eine der Befürchtungen von Eveline Thalmann ist, dass sie je nach Bedarf in einer anderen Region eingesetzt werde. «Ich habe aber keine grosse Lust, beispielsweise in Herisau zu arbeiten, das ist mir zu weit weg. Ich bin nach Trogen gezogen, weil mein Arbeitsplatz hier ist.» Mit der zentral organisierten Administration könnte der Dienst für die PatientInnen unpersönlicher werden. «Die grosse Stärke der Spitex sind aber gerade die sehr persönlichen Dienstleistungen», so Thalmann.

Schon heute wird von den Spitex-Pflegerinnen viel Flexibilität verlangt, doch mit der Fusion könnte sich die Situation noch verschärfen. «Ich kann nicht fest mit Freunden oder Kolleginnen am Feierabend abmachen, weil ich nur an einem Abend in der Woche auf sicher weiss, dass ich wirklich um 17 Uhr fertig bin.» Sie sei nicht die Einzige, die sich mehr Regelmässigkeit wünsche, doch werde dies wohl ein Wunsch bleiben. Denn mit den neuen Verträgen wird auch ein Pikettdienst über Nacht zum Arbeitsbereich von Thalmann und ihren Kolleginnen gehören.

Unter dem Spitex-Pflegepersonal gibt es kaum Männer. In Eveline Thalmanns Team arbeiten ausschliesslich Frauen. Wie in den meisten «typischen Frauenberufen» ist auch bei der Spitex der Lohn tief. Eveline Thalmann: «Ich mache meine Arbeit wirklich sehr gerne. Ich bin aber der Meinung, dass wir für diese qualifizierte Arbeit, für die geforderte Erfahrung und die Flexibilität, die wir Pflegefachfrauen an den Tag legen müssen, eindeutig unterbezahlt sind.»