Erstlingsprosa: Reiselustig und mit Tendenzen zur Nebensache

Nr. 18 –

Was lässt sich aus aktuellen Debütromanen über den Stand der neuen Schweizer Literatur herauslesen? Bei aller Globalisierung, so die Ferndiagnose aus Berlin: ein Hang zum Privaten – und zum Nebenstrang.

Vor zehn Jahren druckte die «Frankfurter Allgemeine» einen Essay mit dem Unheil verkündenden Titel «Warum die Schweiz ohne junge Schweizer Literatur auskommen muss». Von «schleichender Erosion» politischer Positionen war die Rede.

Was sich zunächst wie eine «Emanzipation» jüngerer AutorInnen angelassen habe (ohne Vatermord, vielmehr durch freundliches Umarmen), sei zum Ende der neunziger Jahre literarisch aus dem Geist der Konsumgesellschaft ausgewachsen: Die Kinder «der Überfluss- und Globalisierungsgesellschaft, der Medien- und Informationsgesellschaft, der Party- und Fungesellschaft» beträten jetzt das Spielfeld.

Die landestypische Auseinandersetzung mit der Enge und den starren Normen sei damit verschwunden. Stattdessen habe sich in der Schweizer Literatur um 2003 eine starke «Rückwendung ins Private» mit «fast autistischer Weltsicht» vollzogen: «Das erzählende Ich der jüngsten Literatur rollt sich gern kokonartig in die individuelle kleine Welt ein oder nickt den eigenen hübschen Spiegelbildern wohlgefällig zu.»

Entsprach die Literatur damit dem klischierten Bild, das man als AussenbetrachterIn von der Schweiz haben kann? Tatsächlich lagen viele Schweizer Erzählungen zum Ende der neunziger Jahre im damaligen Trend der deutschsprachigen Literatur: Krisen gab es vor allem nach Trennungen, die existenzielle Leere umschwappte einen zuweilen wie lauwarmes Badewasser, und wichtige Fragen drehten sich primär um: meine Identität, mein Sex, meine Turnschuhe. Darüber die graue Sonne selbst erfundener Tragik. «Vom literarisch verbrämten Politgeplauder distanzieren sie sich, gegenüber den politischen Katastrophen bleiben sie stumm», urteilte die FAZ über die damaligen Schweizer JungautorInnen.

Wer sich zehn Jahre später durch Schweizer Debütromane liest, kann feststellen, dass die Stichworte «Jugend», «Privatheit» und «Konsum» noch lange Schatten auf die literarische Landschaft werfen. Auch ist die Mobilität der AutorInnen und ProtagonistInnen weiterhin hoch. Und so machen wir uns auf Reisen, die die Erstlinge vorschlagen. Wir messen nicht nach Kilometern, sondern nach Kulturzonen, in die es die ProtagonistInnen verschlägt – und sortieren nach der Distanz zur Schweiz.

Jonas Lüscher: 
«Der Frühling der Barbaren»

Weit oben rangiert da eine Novelle – mit Tunesien als Ort des Geschehens: «Der Frühling der Barbaren» des 36-jährigen Philosophiedozenten Jonas Lüscher steht der zehn Jahre alten These einer apolitischen, schweizfreien Schweizer Jungliteratur entgegen – als einziger unter den hier besprochenen Erstlingen.

Mit politischem Witz, hoher Geschwindigkeit und gleich drei Erzählern bekommen wir es hier zu tun: mit Preising, der von einem Abenteuer erzählt, seinem Freund und eigentlichem Ich, das zuhört und ab und an eingreift – und noch einem auktorialen Erzähler. Ein hübscher Kniff, denn so blicken wir gleich mit einer gewissen Distanz auf den, der eine Geschichte vom verunglückten Urlaub vorträgt, während wir eigentlich nur so den Kiesweg hinabgehen. Und dieser Preising, gerät er nicht auf den ersten Seiten spielerisch selbst in die Nähe des Bildes, das man von der Schweiz haben kann? Er, der «erklärte Kulturrelativist», dessen einzige Qualität «Beständigkeit vermittelt, den unerschütterlichen Geist eines Familienunternehmens in der vierten Generation» – während die anderen, die Zugewanderten die Arbeit machen?

Überhaupt bemüht sich Preising um gesunde Distanz zu den Dingen: Wenn Entscheidungen in der Firma anstehen, wird er stets weggeschickt, diesmal eben in ein Luxusresort in Tunesien, wo er in eine Hochzeitsgesellschaft aus britischen Jungbankern gerät – und alsbald in eine veritable Krise: Die Finanzgesellschaft, in der kaum zivilisatorische Elemente zählen und die sich dennoch selbstgewiss als Kern der Welt wähnt, gerät aus den Fugen – just, als sich die Hochzeitsnacht über die Urlaubsgesellschaft spannt: «Während Preising schlief, ging England unter.»

Was nun passiert, kann als flackernder Widerschein von William Goldings «Herr der Fliegen» durchgehen: Der Firnis unserer Kultur ist dünn, und in der tunesischen Oase werden nacheinander die Verbindungen gekappt – die Gäste werden zahlungsunfähig, arbeitslos und verlieren den Empfang für ihre Mobiltelefone. Das muss in Gewalt ausarten, und dafür ist der entscheidungsschwache und urteilsscheue Preising ein optimaler Beobachter: So bleiben wir auf der Ebene der Beobachtung und driften nicht in den Sumpf der Zeigefingermoral ab.

Joachim B. Schmidt: 
«In Küstennähe»

Gleich ganz ausgewandert ist Joachim B. Schmidt für seinen Roman «In Küstennähe» – nach Island. Doch war der Reiseertrag des «Frühlings der Barbaren» eine elegant komponierte, sprachlich präzise Novelle, wird es beim 32-jährigen Schmidt spätadoleszent und rumpelig. Zwar ist auch «In Küstennähe» kaum mehr als eine Novelle, nur hat Schmidt sie auf 368 Seiten gedehnt. Wir folgen Lárus, einem Drogendealer und Hausmeisterassistenten, der bald 23 Jahre alt wird. Kuscheln liegt ihm nicht, und bei Frauen hält es ihn kaum länger, als der Beischlaf dauert. An den Wochenenden säuft er, macht Dinge kaputt, prügelt sich. Auf Seite 68 hätte er schon gerne einen Freund, um die Dinge zu besprechen. Elf Seiten später wünscht er sich retrospektiv Geschwister.

Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass «In Küstennähe» eine Art Gefäss für jede einzelne Schnurre ist, die Schmidt in Island aufgeschnappt hat. Ständig erklärt uns der Autor, was man zum Beispiel in den Westfjorden alles so tut. Auch erklären sich die IsländerInnen ständig Island – und erzählen Lárus dann, dass an jenem Tag «Grímur Sand von der Grube im Skutulusfjord über die Breidadalsheidi nach Flateyri zu einer Baustelle» fuhr, denn «den Tunnel gab es damals noch nicht». So untertunnelt man zwar seine Dramaturgie – schneller ans Ziel kommen geht anders.

Leider möchte Joachim B. Schmidt in dieses Gefäss noch viele andere Gedanken legen. Und so bekommt man den Kern der Geschichte, die Wandlung des Lárus, gar nicht richtig freigelegt. Lárus lernt nämlich den lange gefürchteten Grímur kennen, der sich in schlanken vier Druckseiten vom Angst machenden «Schlächter» in einen ganz possierlichen Alten verwandelt, einen «Komplizen» gar. Und schon hat Lárus den Freund, dem er alles erzählen kann – und mit dem er sogar eine Bootstour unternimmt.

Franziska Häny: 
«Der Rote Norden»

Franziska Häny beim Gotthard, wo sie an einem Nachmittag zwischen Weihnachten und Neujahr, auf der Rückreise aus dem Tessin, eine entscheidende Inspiration für ihren Roman «Der Rote Norden» erlebte. Foto: Ursula Häne

Die Fallhöhe einer Erzählung, die wie «Der Rote Norden» der 52-jährigen Zürcher Autorin Franziska Häny mit heulender Frau, kaputtem Delfinbild und Katzen beginnt, scheint berechenbar. Dann aber bricht alles Berechenbare weg – und die Protagonistin schlingert durch einen Roman, der fast nur noch Rätsel zurücklässt.

Ein Ich, das nicht aufhören will, sich als dick, hässlich und dumm zu beschreiben, blickt in einer Art Emanzipationsgeschichte in seiner Küche umher. Und die Küche schaut zurück: jahrelanger Stillstand. Also fährt die Frau los, verlässt Küche, Mann und die Routine. Ihr eigentlich tot geglaubter Bruder Martin ruft sie in den hohen Norden. Sie beginnt eine Herbstreise um den finnischen Inarisee, die unverhofft in religiösen Diskussionen mit einem Mann endet, der gewisse Ähnlichkeit mit ihrem eigenen hat. Aber zunächst putzt sie ihm die Küche. Am nächsten Tag rebelliert sie ein bisschen: Wenn sie eine entsprechende Bibelstelle fände, würde er alle Tiere aus den Käfigen freilassen.

Martin Felder: 
«Meine Nachbarin, der Künstler, 
die Blumen und der Revolutionär»

Die Reise, die der 39-jährige Martin Felder mit «Meine Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär» unternimmt, ist etwas komplizierter. Sie führt aus einer kleinen Stadt in eine grössere (wohl Berlin, denn hier bilden sich die Menschen etwas auf schlechte Manieren ein, auch junge Paare mit komischen Schuhen und Kinderwagen passen ins Bild) – und gelangt auch an eine Grenze dessen, was der Begriff «Roman» halten kann: Felders Roman besteht aus Assoziationsketten, Fabulierungen und Beobachtungen, lose aneinandergereiht, vage um eine Handlung gruppiert, mit eigenem Ton. Manchmal also kann sogar Autismus swingen.

«Je länger ich ins Leere schaue, desto weniger Leere sehe ich.» Kein gestutzter Nietzsche, sondern eine Gebrauchsanweisung: Felder schreibt twitternachrichtenlange Blöcke – dazwischen weite, weisse Flächen, die man nutzen kann, um den Sätzen hinterherzuspüren. Die Handlung weist nach innen: Ich-Erzähler sucht Liebe – und wohl auch Sinn. Denn die Nachbarin ist mit dem Revolutionär verschwunden, zurück bleibt der Ich-Erzähler: mit Liebeskummer.

Felders spielerische Beobachtungen sind nicht ohne Reiz, irgendwann aber wachen wir auf aus einer Welt, aus der alles Grauen verbannt, in der Arbeit nebensächlich und Selbsterfahrung zentral ist. Die Geste, formal dem Splittern und Rauschen einer medial vermittelten Welt zu folgen und sie von innen zu bereisen – diese Geste also haben sie drauf, die Kinder der Globalisierungsgesellschaft.

Pascal Ruf: 
«Die Reglosen»

Pascal Ruf auf einem Schiffssteg beim Zürcher Bürkliplatz. Der See hat für den Protagonisten in seinem Roman «Die Reglosen» zentrale Bedeutung: als Metapher für Freiheit und mögliche Anfänge – und auch für Stillstand, da sich das Geschehen hauptsächlich im Winter abspielt. Foto: Ursula Häne

Vielleicht macht Felder eine Umkehr zur engagierten Literatur deutlich: Es geht nicht um moralisches Urteil und die Krisen der Tendenzliteratur. Es gibt keinen pädagogischen Zeigefinger und keine Empörung.

Über was sollen Wohlstandskinder denn ernsthaft schreiben, wenn nicht über Gesten und Zeichen der Wohlstandswelt? Wenn man Felders Hang zu banalen Wortspielen und die oft kunterbunte Süsse der Fragmente überliest, entdeckt man durchaus die absurd unterspülte Gegenwart: Wir reisen unter einem Horizont, in dem Konsumentscheidungen und die damit verbundene Coolness zur Kunstform stilisiert werden. Ob Felder diese apostrophiert oder Teil davon ist, wird nebensächlich.

Am Ende der geografischen Bewegungstabelle noch einmal eine Novelle – mit der Schweiz als Ort des Geschehens: «Die Reglosen» des 25-jährigen Jusstudenten Pascal Ruf. Der Protagonist ist tatsächlich regungslos und konzentriert sich auf das Verarbeiten: Die Frau ist ihm abhandengekommen – und damit auch der Sinn in seinem Leben. Aussen herum wird der Herbst zum Winter und zum Frühling. Protagonist und Ich-Erzähler Michael raucht viel, wird krank, raucht weniger, wird gesund – und macht altklug anmutende Bemerkungen zum Journalismus.

Da möchte einer die Innerlichkeit vermessen, ihm ist kalt, er wähnt sich in einer einsamen Welt – und ein Pastor gibt Pastorensprüche mit. Auch hier: die Tendenz zur Nebensache, die Frühjahrsliteratur mag das Vielleicht. Also überlegt sich Ruf was zur Taube, die fliegt «ganz nah an mir vorbei, ich höre den Schlag ihrer Flügel und schrecke auf. Ich sehe ihr nach, vielleicht ist es dieselbe, die vorhin auf dem Plakat sass.»

Vielleicht.

Lennart Laberenz (36) lebt als Historiker, freier Journalist, Literaturkritiker und Filmemacher in Berlin.

Jonas Lüscher: «Der Frühling der Barbaren». C. H. Beck. München 2012. 125 Seiten. Fr. 21.90. 
Joachim B. Schmidt: «In Küstennähe». Landverlag. Langnau 2013. 368 Seiten. 32 Franken.
Franziska Häny: «Der Rote Norden». Weissbooks. Frankfurt am Main 2013. 280 Seiten. Fr. 24.90.
Martin Felder: «Meine Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär». Salis Verlag. Zürich 2013. 220 Seiten. Fr. 34.80.
Pascal Ruf: «Die Reglosen». KaMeRU Verlag. Zürich 2012. 150 Seiten. Fr. 12.50.

Erstlinge in Solothurn

Erstmals erhalten ProsadebütantInnen an den Solothurner Literaturtagen eine eigene Rubrik: Unter dem Titel «Debüts / Débuts / Esordi» werden je vier AutorInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und ihre ersten Buchveröffentlichungen vorgestellt – darunter auch Pascal Ruf und Joachim B. Schmidt.

Einzellesungen: Pascal Ruf am Freitag, 10. Mai 2013, 18 Uhr, 
im Gemeinderatssaal; Joachim B. Schmidt am Sonntag, 
12. Mai 2013, 13 Uhr, in der Säulenhalle.

Podiumsgespräch über das Debütieren am Freitag, 
10. Mai 2013, 11 Uhr, in der Säulenhalle.