Das iPad im Unterricht: «Klassische Computer werden in den nächsten zehn Jahren aus den Schulen verschwinden»

Nr. 38 –

Mathematik, Geografie, Sexualkunde: In Affoltern am Albis unterrichtet ein Sekundarlehrer mit iPads. Seine Euphorie für die pädagogischen Einsatzmöglichkeiten des Tablet-Computers wird allerdings von unerwarteter Seite gebremst: von den SchülerInnen.

Illustration: Philip Schaufelberger

«Oh, die erste grosse Liebe ist in der Mathematik gelandet – ich hab sie schon überall gesucht.» In den Schulbänken der Sekundarklasse 2c in Affoltern am Albis wird gekichert, Lehrer Peter Mathis verschiebt derweil mit dem Zeigefinger das falsch abgelegte Dokument vorne auf der elektronischen Wandtafel, dem sogenannten Smartboard, in den Menschenkunde-Ordner. Die schwarze Wandtafel dahinter wirkt mit ihrem eisernen Schwammhalter und dem überdimensionierten Lineal aus weissem Plastik wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten.

Lehrer Peter Mathis setzt in seinem Schulzimmer auf digitale Medien. Das Smartboard dient nicht allein als interaktive Wandtafel, es präsentiert auch Filme, Fotos, Schulbuch- oder Internetseiten. Steuern lässt es sich per Fingertipp von einem iPad aus. Seit einem Jahr setzt Mathis die Tablet-Computer der Firma Apple in seinem Unterricht ein. Mittlerweile steht jeder Schülerin und jedem Schüler ein iPad zur Verfügung.

Die Mathestunde hat begonnen. Mathis turnt mit seiner Klasse in schwindelerregendem Pingpong durch die verschiedenen Darstellungsformen von Teilen eines Ganzen: dezimal, prozentual oder als Bruch. Dazu blendet er auf dem Smartboard immer neue Aufgaben ein und schreibt die Lösungen, die ihm die SchülerInnen zurufen, mit einem dicken roten Stift direkt auf das Smartboard. Das neue Mathebuch und die zugehörigen Arbeitsblätter hat er in seinen Computer eingescannt, so steht ihm alles elektronisch zur Verfügung.

Dem iPad gehört die Zukunft

Am nächsten Tag wird die 2c eine Prüfung schreiben. Zur Vorbereitung sollen sie zu Hause noch ein Arbeitsblatt lösen und in der Dropbox ablegen, dem virtuellen Ordner im Internet. Darin stellt der Lehrer Unterrichtsmaterialien, Aufgabenblätter und auch Lösungen bereit. Die SchülerInnen ihrerseits geben dort ihre Hausaufgaben ab. Alles funktioniert elektronisch und ohne Papier.

Auf dem Smartboard erscheint jetzt eine Art Zeichentrickfilm, den Mathis von seinem iPad aus abspielt: Kugeln mit Brüchen, Dezimal- und Prozentzahlen tanzen auf und ab. «Ich habe euch ein neues App, das Spiel ‹Numberline›, auf das iPad geladen», sagt Mathis und demonstriert, wies funktioniert: Die verschiedenen Kugeln müssen möglichst schnell in die richtige Reihenfolge gebracht werden. «Das könnt ihr jetzt gleich mal testen und schauen, welches Level ihr erreichen könnt.»

Für Peter Mathis gehört die Zukunft des Unterrichts dem digitalen Lernen und dem iPad im Besonderen. Dabei steht Mathis selbst kurz vor der Pensionierung. «Ich will mich als Lehrer im Unterricht nicht zu lange mit der Technik herumschlagen», sagt er. «Das iPad ist intuitiv benutzbar. Die Schüler lernen den Umgang damit, indem sie einfach ausprobieren.» Zudem seien die Tablets sofort einsetzbar, das lästige Warten, bis alle ihren Computer hochgefahren haben und startbereit sind, entfällt. Das gefällt auch den SchülerInnen. «Wenn wir etwas nachschauen wollen, geht das viel rascher als mit dem Compi», sagt ein Junge, «mit dem iPad sind wir mit einem Klick im Internet.»

Klassische Computer, ist Peter Mathis überzeugt, werden innerhalb der nächsten zehn Jahre wieder aus den Schulen verschwinden. «Es ist viel billiger, jeden Schüler, jede Schülerin mit einem iPad auszurüsten, als in jedes Schulzimmer zwei bis vier Computer zu stellen, wie es das aktuelle Budget zulässt.» Die Pflege der ganzen Infrastruktur mit Computerraum und Server entfalle, den Support könne man als Lehrer weitgehend selbst leisten.

Zumindest wenn man wie Peter Mathis – das betonen seine SchülerInnen immer wieder – Hobby und Beruf miteinander vermählt hat. Seit 25 Jahren arbeitet er bereits mit Produkten von Apple im Unterricht und auch mit der Firma selbst zusammen: Er gehört zu den sogenannten «Apple Distinguished Educators», vor einem Jahr hat ihm der Konzern sogar den Titel «Apple Professional Developer» verliehen – alles im Zeichen der weltweiten Bildungsoffensive des Konzerns (vgl. «Ein Apfel in jedes Kinderherz» ). Mathis zeigt andern LehrerInnen, wie sie iPads im Unterricht einsetzen können, und bildet ganze Schulhäuser im Umgang mit den Geräten aus. Und er gibt freimütig zu, dass er sich von Konzernen abhängig macht, wenn er mobiles Lernen im Unterricht einführen will. Vielen Lehrpersonen gehe es genauso mit den obligatorischen Lehrmitteln.

Peter Mathis begutachtet immer wieder neue Programme für mobile Geräte, kurz Apps genannt, für den Unterricht. «Es geht darum, den richtigen Mix für das Schulzimmer zu finden.» «Numberline» etwa sei ein gutes Beispiel: einfach gebaut, sofort verständlich und den Denkprozess anregend, weil man, ohne grosse Hürden zu überwinden, rasch ein paar Level im Spiel schaffen könne. Das stachle den Ehrgeiz an, und der Trainingseffekt sei enorm.

Illustration: Philip Schaufelberger

In der 2c sind mittlerweile alle über ihr iPad gebeugt. Manche ziehen den Zeigefinger über den Bildschirm – sie spielen «Numberline». Andere tippen etwas ins iPad. Ob sie die Hausaufgaben abschreiben oder mit einem Klassenkollegen am Chatten sind, bleibt dabei offen. «Allzu spannend war das also nicht», kommentiert einer auf dem Weg nach draussen.

Leidgeprüfte iPad-Geprüfte

Tatsächlich teilen längst nicht alle die Begeisterung ihres Lehrers für den iPad-Unterricht. Vor allem die Mathematik sei zu Beginn des letzten Schuljahrs zu kurz gekommen, weil sie erst mal das iPad hätten kennenlernen müssen, sagt ein grosser, schlaksiger Bursche in der Pause. Die andern Klassen seien im Schulstoff bereits viel weiter gewesen. «Herr Mathis wollte uns auch Geometrie auf dem iPad beibringen», sagt ein anderer. «Dabei ist es doch viel sinnvoller, das von Hand und mit dem Zirkel zu machen.»

Als ein Mädchen Prüfungen auf dem iPad erwähnt, reden plötzlich alle durcheinander. «Wir hatten mehr Tests als die andern Klassen»; «der Lehrer macht sie häufiger, weil er viel weniger Aufwand hat mit dem Korrigieren»; «dabei ist die automatische Benotung voll scheisse: Schreibt man ein Wort falsch, wird die ganze Antwort als falsch gewertet.» Wer etwa «Piramide» statt «Pyramide» schreibt, kriegt keinen Punkt, auch wenn er die gesuchte geometrische Form richtig erkannt hat.

«Irgendwann gilt es ernst mit der Rechtschreibung», kontert Peter Mathis beim Gespräch in der Mittagspause. «Immerhin müssen sie schon bald ihre ersten Bewerbungen für eine Lehrstelle verschicken.» Als Lehrer, so betont er, habe er heute vor allem die Aufgabe, die Jugendlichen für ein lebenslanges Lernen vorzubereiten. «Mit dem iPad lässt sich lustvoll lernen.»

Ausserdem können die SchülerInnen mit ein paar Klicks das gesammelte Weltwissen aus dem Internet anzapfen. «Hier lege ich sehr viel Wert auf einen kritischen Umgang mit der Infoflut im Netz», sagt Mathis. Wenn seine SchülerInnen im Internet arbeiten, verlangt er, dass sie stets mindestens zwei Informationsquellen angeben. Ausserdem dürfen sie ihre Texte nicht einfach im Copy-paste-Verfahren zusammenbasteln. «Ich habe ein Verfahren, mit dem ich herausfinden kann, ob sie ihre Sätze selber formuliert haben.»

Zum Beispiel, wenn die SchülerInnen Vorträge im Fach Geografie zusammenstellen. Das ist nach dem Mittagessen aber noch nicht gefragt. Die Klasse 2b beschäftigt sich in der ersten Nachmittagsstunde mit Urvölkern im 21. Jahrhundert. Peter Mathis kündigt an, drei Dokumentarfilme über das halb-nomadische Hirtenvolk der Himba in Namibia zeigen zu wollen – «drei Filme mit drei unterschiedlichen Botschaften». Mit einem Klick auf sein iPad startet Mathis den ersten Film, und das Smartboard wird zur Kinoleinwand. Im Anschluss bleibt nur noch wenig Zeit für die SchülerInnen, um auf dem iPad in «Pages», einem Textverarbeitungsprogramm für mobile Geräte, Stichworte zu den unterschiedlichen Präsentationen der Himba zu notieren. Zu Hause sollen sie das ergänzen, auch mit eigenen Recherchen im Internet.

«Der dritte Film ist von mir», verrät Mathis, während ihm die SchülerInnen der 2b ihre Hände zum Abschied hinstrecken und zur nächsten Unterrichtsstunde davontrotten. In seinem Weiterbildungsurlaub hat er Naturvölker in Afrika besucht und sich mit den Widersprüchen zwischen traditioneller Lebensweise und wachsenden Touristenströmen auseinandergesetzt. Bis Ende des Jahres will er dazu einen Buchbeitrag schreiben. Für mobile Geräte.

Sexualkunde mit dem iPad

Das kam so: Mitte Juli nahm Peter Mathis an einer Apple-Konferenz in Irland teil. 240 Menschen aus der ganzen Welt waren dabei. «Es ging darum, dass man neu für das iPad auch Bücher schreiben und via Apple-Store publizieren kann.» In den Sommerferien reiste er gleich an die nächste von Apple gesponserte Weiterbildung – einen Wochenkurs, in dem man lernte, mit den neuen Werkzeugen umzugehen, die der Konzern für die Entwicklung interaktiver Lehrbücher entwickelt hatte. «Ich arbeite mit sechs Lehrern aus England, Irland, Schottland, Mexiko und Australien an einem Buch, das sich an junge Lehrer richtet und ihnen mit Anleitungen und Beispielen zeigt, wie man das iPad im Unterricht einsetzen kann», sagt Mathis. Ende des Jahres soll es auf «iTunes U», der Bildungsplattform von Apple, veröffentlicht werden.

In der Zwischenzeit sind erneut die SchülerInnen der 2c ins Klassenzimmer geströmt und drängen sich um ihren Lehrer, um ihm zur Begrüssung die Hand zu drücken. «Heute drehen wir ein kleines Filmchen», beginnt Peter Mathis die Doppelstunde Sexualkunde. «In der letzten Stunde gings ums Küssen. Was kommt jetzt?» Verlegenes Kichern in den Bänken. Ein Vorwitziger ruft: «Geschlechtsverkehr!», doch der Lehrer schaut weiter in die Runde, aus der kaum jemand seinen Blick erwidert, bis dann schliesslich ein Mädchen etwas nuschelt, das Mathis dankbar aufgreift. «Ja, die erste grosse Liebe», er öffnet das falsch platzierte Dokument vom Morgen auf dem Smartboard. «Was macht man denn da?»

Gut für das Selbstvertrauen

Die Klasse ist kaum zu aktivieren, und so spielt Mathis nach wenigen Minuten eine Fernsehsendung für Jugendliche zum Thema ein: eine Art Talkshow mit szenischen Einblendungen, Anrufen ins Studio und betont locker und cool auftretenden Expertinnen.

Illustration: Philip Schaufelberger

Und dann sind die SchülerInnen der 2c dran. Einen ersten Flirt sollen sie inszenieren und mit dem iPad filmen – zu dritt. Plötzlich ist der Tumult gross. Ein Junge setzt dem Lehrer wortreich auseinander, weshalb er so etwas unmöglich tun könne. Ein Mädchen fragt: «Dürfen wir auch nach draussen in den Hof gehen?» – «Lieber nicht», sagt Mathis, «sonst kommt noch ein Lehrer und nimmt euch das iPad weg.» Das Schulreglement verbietet den SchülerInnen, sich ohne explizites Einverständnis auf dem Areal mit Handys und anderen mobilen Geräten gegenseitig zu fotografieren oder zu filmen.

Peter Mathis gibt seinen SchülerInnen noch ein paar kurze Tipps, wie sie das iPad als Filmkamera einsetzen können, und entlässt sie dann mit dem Hinweis, es sei Vertrauenssache, dass die Filme nicht rausgehen würden. Er werde sie am Ende der Stunde alle auf seinen Computer laden und in den iPads löschen.

«Meine Erfahrung ist, dass sie viel seriöser arbeiten, wenn sie sich beim Rollenspiel filmen, als wenn sie direkt vor der Klasse spielen», sagt Mathis, als sich das Klassenzimmer geleert hat. «Gerade in solchen Situationen ist das iPad ein pädagogisch wertvolles Instrument.» Für die Jugendlichen sei es schon schwierig genug, eine Stimmung ausdrücken und dazu vielleicht sogar über ihren Schatten springen zu müssen. «Das iPad ist unkompliziert und sofort einsatzbereit – man sieht gleich, wie die Szene herausgekommen ist, kann sie mit ein paar Klicks verändern oder nochmals drehen.» Laut Mathis hilft das iPad den Jugendlichen, Selbstvertrauen aufzubauen.

Kurz vor den Sommerferien hat die Euphorie von Peter Mathis allerdings einen gehörigen Dämpfer erfahren. Parallel zum Ersinnen einer Flirtgeschichte erzählen zwei Jungs von einer Nachrichten-App, über die sich einige SchülerInnen während der Prüfung über die Resultate ausgetauscht hätten. «Der Lehrer war fuchsteufelswild, als er dahintergekommen ist.»

Peter Mathis spricht von einem Vertrauensbruch, der ihn masslos enttäuscht habe. Aber verhindern lasse sich so etwas kaum. Da half auch das siebenseitige Reglement zum Umgang mit dem iPad nicht, das Mathis vor einem Jahr ausgearbeitet hat und von SchülerInnen und Eltern unterzeichnen liess.

«Ich finde, der Lehrer kann nicht von uns erwarten, dass wir nichts Unerlaubtes tun während der Schulstunde, wenn wir ein iPad mit all diesen Möglichkeiten vor uns haben», sagt ein weiterer Schüler. «Wir können jederzeit ins Internet, um etwas nachzuschauen. Dabei werfen wir vielleicht halt auch noch einen Blick in ein YouTube-Video.» Und einmal hätten sie bei einer Prüfung im Fach Mensch und Umwelt einfach alles im Internet oder in den Unterlagen, die in der Dropbox lagen, nachgeschaut.

Die Affäre endete schliesslich vor der Schulleitung. «Weil wir gespickt haben, dürfen wir das iPad bis zu den Herbstferien eigentlich nicht mehr gebrauchen», sagt ein Schüler, der gerade damit beschäftigt ist, die erste Aufnahme der Flirtszene zu beschneiden. «Nur noch ausnahmsweise.» Vermissen sie es? Schulterzucken reihum. «Nicht so stark – wegen der Tests», sagt ein Mädchen, die andern nicken. «Wir sind froh, müssen wir die nicht mehr auf dem iPad machen.»

Es gibt kein Zurück

Und nach den Ferien? «Ich weiss nicht, ob das gut kommt», sagt ein Junge nachdenklich. «Mit dem iPad kann man einfach viel zu viel machen. Und es macht auch Spass. Aber ob es für den Unterricht wirklich etwas bringt, ob es auch einen Lerneffekt hat, da bin ich mir nicht so sicher.»

Ein Zurück ins analoge Klassenzimmer ist für Peter Mathis unvorstellbar. Auch heute wird der Lehrer noch bis spät in die Nacht vor dem Computer sitzen, um mit seinen internationalen Teamkollegen auf einer virtuellen Austauschplattform am Buch für «iTunes U» weiterzuarbeiten. «Ich bin schon sehr viel im Netz unterwegs und hole mir Inputs und Ideen, auch aus der Community der Apple Developers», sagt er. «Es läuft immer viel. Pro Abend bin ich zwei bis vier Stunden an der Arbeit – Stunden vorbereiten, Kontakte pflegen.»