CocoRosie: «Tales of a Grass Widow»: Im Auftrag ewiger Jugend
Dunkle Romantik, kindliche Naivität, Tod und Verderben: Auf ihrem fünften Album bewegen sich die Schwestern Bianca und Sierra Casady auf verzweigten Nebenstrassen – altersloser denn je.
Alfred Dreyfus, der französische Offizier und vermeintliche Landesverräter, war ihr berühmtester Insasse. Und beileibe nicht der einzige Unschuldige, der dort von 1895 bis 1899 unter unmenschlichen Bedingungen schmorte. Die Rede ist von Devil’s Island, der Gefängnisinsel vor der Küste von Französisch-Guyana. Ein Stück Alter in der Neuen Welt.
Dieses besonders düstere Kapitel der Kolonialgeschichte wird auf dem neuen CocoRosie-Album «Tales of a Grass Widow» besungen. Es ist ein Hidden Track, der sich ganz am Ende des Albums verbirgt. Erst gilt es zwölf Minuten quälender Stille zu überstehen, nach «Poison», dem vermeintlichen Finale. Plötzlich beginnt ein triumphal übersteuerter Shufflebeat – und zerfasert friedlich bimmelnde Glockentöne, während die kindlich anmutende Stimme von Bianca Casady mit unheimlicher Seelenruhe deklamiert: «I have only eyes for you.»
Ganz selbstverständlich gelingt es CocoRosie, dabei einen Song gleichzeitig knallig und wattiert klingen zu lassen. Sie schaffen es, ohne falsche Rührung einen Songtext über Menschen zu schreiben, die vor der Gesellschaft weggeschlossen werden, unsichtbar gemacht und verlassen von Gott und der Welt.
Wie bei einem Gebet
Dunkle Romantik, kindliche Naivität, aber auch Einsamkeit, Tod und Verderben: All das sind wiederkehrende Themen im Œuvre des Schwesternduos, das mit seiner Musik schon immer die Zukunft mit der Vergangenheit zu verschränken wusste. So auch mit «Devil’s Island», einem Amalgam aus mehreren CocoRosie-Songs – sie dürfen sich inzwischen auch selbst zitieren. Anklänge an ihr Schlaflied «Happy Eyez» tauchen auf, zwischendrin durchstösst eine Liveaufnahme von «End of Time» die morsche Klangdecke, ebenfalls ein Stück vom neuen Album. Bis man seine Fassung wieder zurückgewonnen hat, hat sich «Devil’s Island», dieser Phonsturm von einem Song, wieder gelegt. Keine Frage, es ist einer der Tracks des Jahres.
Sierra Casady klärt auf: «Die Stille nach ‹Poison› währt zwölf Minuten und zwölf Sekunden, als Erinnerung an den 12.12.2012, den Tag der Aufnahme. Unsere Arbeiten am Album waren eigentlich schon abgeschlossen. Damals sollte ja der letzte Tag auf Erden sein. Nicht für uns, im Gegenteil, ‹Devil’s Island› markiert einen Anfangspunkt. Das Ende von etwas ist eine Erschütterung, die einen Neuanfang einleitet. Ein sehr feierlicher Moment.»
Bianca (30) und Sierra Casady (32) sitzen im Büro ihrer Berliner Plattenfirma. Konzentriert wirken sie, neugierig und überaus positiv gestimmt. Das war nicht immer der Fall bei Interviews. «Wir antworten, indem wir Hoffnung und Heilung spenden für alle, die dies akzeptieren möchten», sagt Bianca Casady, aber sie klingt dabei nicht sonderlich salbungsvoll.
Die Antwort bezieht sich auf den Song «Tears for Animals» und seine existenzphilosophische Anwerfung «Do you have love for human kind?». CocoRosie mögen hermetisch und düster wirken mit ihrer von Märchenwesen bevölkerten und von Schauerromantik erfüllten Bilderwelt – ihre Musik aber ist eindeutig lebensbejahend.
«Tears for Animals» steht an zweiter Stelle des Albums. Und Sierra Casady beantwortet die Frage aus dem Songtext zusammen mit ihrem Freund Antony Hegarty mit singender Ergriffenheit: «Wie bei einem Gebet hegen wir eine Spur Hoffnung. Es ist ein langer Prozess, und wir sind ein Teil davon.» Eingängig ist dieser Song, was auch am Beatboxing des französischen Hip-Hop-Musikers Tez liegt, der wieder mit von der Partie ist.
Immer wieder bei null anfangen
«Tales of a Grass Widow» ist das fünfte Album von CocoRosie – das erste in ihrer nunmehr zehnjährigen Karriere mit klarer Dancefloorschlagseite. Nicht stur geradeaus, was Rhythmen und Melodien angeht – CocoRosie nahmen schon immer die verzweigten Nebenstrassen, verzettelten sich gerne in Details.
So auch auf «Tales of a Grass Widow», wo manchmal auch zu viele Hirtenflötentöne frei stehen bleiben. Zum Glück gibt es für jeden Anflug von Kitsch als Gegenentwurf Autotune-Effekte für die Stimmen – der omnipräsente Piano-Naturalismus wird mit schneidenden Synthiemelodien zerteilt. Was sie unter Dancefloor verstehen?: «Le Mystère des Voix Bulgares», sagt Sierra Casady: «Diese Musik bringt mich zum Tanzen, sie elektrisiert mich. Die Stimmen machen mich regelrecht aggressiv.»
«Gravediggress, dig me a hole I can bury / All my love in / All of my holy» (Totengräberin, grab mir ein Loch / wo ich vergraben kann / all meine Liebe / meine Heiligkeit»), heisst es in der ersten Auskoppelung «The Gravediggress». Bianca Casady zoomt sich in die Zukunft und stellt sich ihr Kind vor, das sie selbst als alte Frau anspricht. Sierra liefert die Begleitumstände: «Der Song erinnert mich an einen frühen Morgen, Bianca sitzt vor ihrer Schreibmaschine in Paris und tippt, setzt Worte auf Papier zusammen, dann schneidet sie diese aus und arrangiert sie neu. Die Worte zerrinnen ihr wie Sand in der Hand. Man denkt an etwas, und je mehr Gedanken man daran verschwendet, desto drastischer fällt alles auseinander.»
Trotz aller Drastik, trotz allen Zerfalls: Die Musik von CocoRosie fühlt sich altersloser denn je an, sie klingt, als sei sie unterwegs im Auftrag ewiger Jugend. «Wenn es eine Essenz unserer Künstlerexistenzen gibt, dann die, dass wir uns alterslos fühlen. Wir lieben die Arbeit am Song, und sie hört nie auf. Aber wir verfolgen keine Gesetzmässigkeiten, jedes Mal definieren wir Unschuld von neuem.»
Ihr Leitmotiv sei «transformative Ekstase im Angesicht der Verwahrlosung», haben CocoRosie ihrem neuen Album vorausgeschickt. Am nächsten fühlen sich CocoRosie dem Folk: «Wir glauben an die Mythen des Folk. Das Storytelling des Folk ähnelt unserer Arbeitsweise», sagt Sierra. Bianca nickt: «Wir verwenden keine Formeln, wir haben keine Kriterien – es geht immer um Charaktere und ihre Geschichten.»
CocoRosie spielen am 3. Juni im Salzhaus Winterthur, am 4. Juni in Les Docks Lausanne und am 5. Juni 2013 in der Kaserne Basel.