The Weeknd: Wellness im Fegefeuer
The Weeknd ist einer der erfolgreichsten Popstars der Gegenwart. Sein neues Album, «Dawn FM», ist eine faszinierende Studie zur transzendenten Kraft von Oberflächen und Simulationen.
Eine Komfortzone würde man das nicht nennen, aber The Weeknd ist wieder da gelandet, wo er sich am wohlsten fühlt. Total high, es ist fünf Uhr morgens, kreuzt er bei einer Geliebten auf: «Ich will dich, weil wir beide wahnsinnig sind.» Erlösung verspricht der Tod: Sie möge ihn doch mit Benzin übergiessen und anzünden, nachdem er friedlich eingeschlafen ist.
«Gasoline», der erste Song auf «Dawn FM», dem neuen Album von The Weeknd, ist mit seinem forschen Elektrobeat und der ungewöhnlich tiefen Gesangslage zunächst auch musikalisch einer der düstersten Momente auf dem Album. Doch im Refrain malt The Weeknd diese Todesfantasie zu gespenstischen Synthesizern in seinem zuckersüssen Falsett aus. Suizidaler Schmerz klingt anders.
Eigentlich hat er den Tod hier sowieso bereits hinter sich. Auf dem Album «After Hours» (2020), das The Weeknd zum meistgehörten Künstler auf Spotify machte, klappt er nach einer wilden Odyssee durch Las Vegas an einer Party zusammen. «Dawn FM» schliesst dort an und katapultiert einen direkt ins Fegefeuer. Doch nicht nur das, hier wartet auch noch ein etwas sediert klingender Jim Carrey auf uns. Er ist der Moderator einer Radioshow, die einen bis zum Licht am Ende des Tunnels begleiten soll. Zwischen den Songs spricht er den Hörer:innen gut zu: «Mach dir keine Sorgen, wir sind hier, um dich bei der Hand zu nehmen und durch diesen schmerzfreien Übergang zu führen.» In diesem Fegefeuer scheint es eher um Wellness als um Kasteiung zu gehen.
Toxische Liebe
Auf «Dawn FM» arbeitet The Weeknd weiter an seinen makellosen Popsongs mit süffigen Melodien und Beats im Stil von Discopop und R ’n’ B wie aus den achtziger Jahren. Manche klingen, als könnten sie tatsächlich von damals sein; sogar die Verunreinigung des Radiosignals wird imitiert. Doch das Verhältnis zur Vergangenheit ist kompliziert – musikalisch, aber auch innerhalb des Narrativs, das für ein Blockbusteralbum ziemlich raffiniert daherkommt.
«Dawn FM» ist um einen Wendepunkt herum konstruiert: «A Tale by Quincy», seinem Namen getreu eine kurze Geschichte, erzählt von Quincy Jones, dem einstigen Produzenten von Michael Jackson – und ewigen Vorbild von The Weeknd. Jones erzählt von seiner schwierigen Kindheit, die es ihm verunmöglicht habe, gesunde Beziehungen einzugehen: «Immer wenn ich einer Frau zu nahe kam, musste ich sie loswerden.» Nicht zufällig ist das auch das zentrale Motiv bei The Weeknd: Seine Songs handeln seit Anbeginn nicht nur von verdrogten Nächten am Abgrund – mit den «Blinding Lights» aus seinem gleichnamigen Überhit ist auch das Blaulicht eines Krankenwagens nach einer Überdosis gemeint –, sondern auch von toxischen Liebesbeziehungen.
Der mittlerweile 31-jährige Abel Tesfaye, der Mann hinter The Weeknd, wuchs in Toronto auf und hat einen beispiellosen Aufstieg vom obskuren Erneuerer des R ’n’ B zum Weltstar durchgemacht. Auf seinen ersten drei Mixtapes zelebrierte er über Indiesamples und dunkel schimmernde Beats den Sex- und Drogenrausch, nicht als Kontrollverlust, sondern als unverfrorene Ermächtigung. «Ich bin die Droge in deinen Venen, kämpf dich durch den Schmerz», heulte er in «What You Need». Mit dem Album «Beauty Behind the Madness» (2015) begann die Zusammenarbeit mit dem Hitproduzenten Max Martin, der Songs für Britney Spears, Katy Perry und Taylor Swift geschrieben hat. Die Musik von The Weeknd wurde wuchtig und glitzernd, erhielt eingängige Refrains, die Figur aber blieb dieselbe.
Als Erstes verschaffte Martin ihm eine Strophe in Ariana Grandes Song «Love Me Harder». Tesfaye erhielt das ausgeschriebene Stück und konnte sich nicht damit identifizieren. Also schrieb er es um, und Martin liess es zu, obwohl er seinen Künstler:innen kaum je so viel Autonomie zugesteht. Im Songtext heisst es dann: «Du kennst mich und entscheidest dich, zu bleiben, also nimm diese Lust und nimm sie mit dem Schmerz.»
Und nun, auf «Dawn FM», eben dieser vermeintliche Wendepunkt: Im zweiten, längeren Teil des Albums, der mehrheitlich aus Balladen besteht, versetzt sich The Weeknd ungewohnt oft in die Opferrolle. Einmal ist die begehrte Frau verheiratet, eine andere ist aus dem Sexarrangement nach einer Beziehung ausgestiegen, und einmal bereut er explizit, seinen Pflichten in einer gescheiterten Liebe nicht nachgekommen zu sein. Dieser Song, «Out of Time» heisst er, schliesst auf dem Album an «A Tale by Quincy» an, und The Weeknd übernimmt von dort auch die Selbstdiagnose: traumatische Vergangenheit.
Eine biografische Lesart scheint verlockend, in manchem Text zum Album wurde freudig konstatiert, der Casanova habe sich geläutert. Doch das passt nicht dazu, wie wahr und schwerelos diese Musik sich anfühlt. Der entrückte Gesang von The Weeknd, der eher wie ein Beruhigungsmittel als wie eine Beichte wirkt, zersetzt zuverlässig jegliche Melancholie. The Weeknd kann davon singen, wie er nach einer Trennung wieder fast gestorben sei in der Disco, oder gar eine Zeile wie «Ich verdiene niemanden, der loyal zu mir ist», und es ist darin nicht einmal eine Spur von Selbstmitleid zu hören.
Mit Humor gebrochen
Aber vor allem werden simple Linearitäten hier ständig formal unterwandert, die musikalischen Rückgriffe auf Sounds der Vergangenheit spielen mit der Wahrnehmung, sei es durch Überidentifikation oder Täuschung. In «Out of Time» heisst es: «Say I love you, girl, but I’m out of time», und kurz darauf taucht Jim Carrey wieder auf und erklärt, wie das zu verstehen sei: «Wage es nicht, das Radio auszuschalten, denn, wie der Song sagt, bist du aus der Zeit gefallen.» Der Song besteht mehrheitlich aus einem Sample von «Midnight Pretenders» (1983) der japanischen Sängerin Tomoko Aran, und als wäre das nicht genug, übernimmt The Weeknd für den Refrain auch die charakteristische Melodie des Synthesizers.
Die verspielten Elemente des Albums haben auch mit einem weiteren Produzenten zu tun, von dem der Spagat zu Max Martin kaum grösser sein könnte. Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never gehörte einst dem melancholisch-dystopischen Internetgenre Vaporwave an und veröffentlicht bis heute komplexe elektronische Musik. Lopatins Faszination für Archive und kulturelle Erinnerung drückt in Form der Wiedergänger durch, die das Album bevölkern. Einmal imitiert The Weeknd nur das Timbre und den Akzent von britischen Synthpop-Bands aus den Achtzigern, an einem anderen Ort singt der leibhaftige, 79-jährige Bruce Johnston von den Beach Boys verwaschen im Hintergrund. Und «Take My Breath» tut so, als wäre es ein Mash-up aus «Da Funk» von Daft Punk und «Edge of Seventeen» von Stevie Nicks.
Wenn man hier also aus der Zeit fällt, hinaus aus der vielleicht von Traumas belasteten Gegenwart, findet man sich nicht in einer intakten Vergangenheit wieder, die man sich sehnsüchtig zurückwünscht. Diese Musik ist eine Simulation; an seltsamen Verdrahtungen und kleinen Programmierfehlern erkennt man sie, aber man wird zuverlässig verführt von all den Funkbeats und dem Funkeln. Einmal ist hier sogar die Rede von einem «fesselnden Science-Fiction-Werk», in einem eingeblendeten Werbespot für die «exotische, bizarre und schöne Welt von ‹After Life›», in der man sich nach dem Tod am Ende von «After Hours» ja gerade befinden muss.
Anders als die erstaunlich flach geratenen Beiträge der Rapper Lil Wayne und Tyler, the Creator wirkt der Humor als wohltuende Brechung. Ohne solche Momente wäre die bis in jede ihrer eleganten Bewegungen designt wirkende Ästhetik von The Weeknd auf Dauer kaum zu ertragen. Aber der Bruch geht tiefer, wenn man den manchmal geradezu grotesk klingenden Sounds zuhört, die Daniel Lopatin etwa durch eine flauschige Ballade wie «Don’t Break My Heart» spuken lässt. Auch die hermetische Oberfläche kann nur eine Täuschung sein.
The Weeknd: Dawn FM. XO/Universal. 2022