Selbstverwaltung in Griechenland: «Es geht auch um unsere Würde»

Nr. 21 –

«Wenn die nicht können – wir können schon.» Unter dieser Parole halten seit über drei Monaten Arbeiter ihre frühere Fabrik besetzt, inzwischen haben sie auch die Produktion wiederaufgenommen. Ihr Beispiel könnte Schule machen.

Entlassen, arbeitslos – jetzt gehts weiter ohne Chef: Viome-Arbeiter in einer der besetzten Produktionshallen in Thessaloniki.

«Wir entscheiden alles gemeinschaftlich, jeder von uns ist für alles verantwortlich», sagt Makis Anagnostou. Der bärtige Mann mit der roten Baseballkappe steht in der Baustofffabrik Viomichaniki Metaleftiki und ist sichtbar stolz auf das, was er mit seinen Kollegen erreicht hat. «Da draussen», sagt er und zeigt in Richtung Werkstor, «ist ohnehin keine Arbeit mehr zu bekommen. Daher nutzen wir die Möglichkeit, hier anzupacken.» Seit Februar halten 38 Beschäftigte von Viome, wie sie die Firma nennen, die Fabrik in Thessaloniki besetzt. Und nicht nur das: Sie haben auch die Produktion wiederaufgenommen. Ob sie durchhalten können, ist allerdings ungewiss – denn es hängt nicht von ihnen allein ab, ob ihr Projekt eines selbstverwalteten Unternehmens überlebt.

Über Jahrzehnte hinweg war Viomichaniki Metaleftiki ein hoch profitabler Betrieb gewesen. Noch im Jahr 2006 zählte Viome zu den zwanzig erfolgreichsten Unternehmen Nordgriechenlands. Die 1982 gegründete Firma – eine von zwei Tochtergesellschaften des Keramikunternehmens Philkeram – belieferte ganz Griechenland mit Baumaterialien wie Fugenkleber, Mörtel oder Gipsputz und exportierte ins benachbarte Ausland. Doch in den Jahren der Krise begann der Umsatz zu sinken. 2010 ging er um fünfzehn Prozent zurück, in den folgenden Monaten nahm er um weitere fünf Prozent ab. Und so stellte im Mai 2011 die Familie Filippou, der Philkeram, Viome und ein weiterer Betrieb gehörten, die Produktion in allen drei Unternehmen ein. Die Firmen seien nicht mehr rentabel, behaupteten die EigentümerInnen.

Die Belegschaft sieht das anders. Das Unternehmen sei weiterhin profitabel gewesen, sagt Makis Anagnostou, der vor Monaten zum Sprecher der Belegschaft gewählt wurde: «Die Eigentümer haben das Werk nicht geschlossen, weil es Verlust machte. Sondern weil es ihnen nicht mehr profitabel genug war.» Monatelang hatten die Arbeiter gehofft, eine Schliessung doch noch abwenden zu können. Sie akzeptierten unbezahlte Kurzarbeit und blieben alle vier bis sechs Wochen eine Woche lang zu Hause. Sie verzichteten auf die Zuschläge für Nacht- und Feiertagsarbeit. Sie nahmen auch eine Streichung der Familienzuschüsse hin. Der Durchschnittslohn sank von 850 auf 650 Euro monatlich. Doch vergebens. Alle Zugeständnisse halfen nichts, das Werk machte über Nacht dicht, die achtzigköpfige Belegschaft stand auf der Strasse, ohne Abfindung, ohne Auskommen.

Denn das Arbeitslosengeld, das in Griechenland für maximal ein Jahr bezahlt wird, bekamen sie erst, nachdem der Konkurs offiziell anerkannt wurde. Das war im September 2011. Ein Jahr später war auch damit Schluss. Danach ging es ums nackte Überleben. Doch dann trafen sich die Viome-Arbeiter wieder, nicht alle, aber rund die Hälfte der Belegschaft. Sie setzten sich zusammen, sprachen über Alternativen – und beschlossen mit grosser Mehrheit, das Werk zu besetzen und weiterzubetreiben; nur zwei enthielten sich der Stimme.

Fehlende Rohstoffe

«Bei uns gab es schon immer einen grossen Zusammenhalt und eine proletarische Kultur», erklärt Anagnostou den Entscheid. Und so stiegen sie am 12. Februar über das Werkstor, sichteten die Bestände, räumten auf, schweissten geplatzte Röhren, setzten die Werkszufahrt instand und begannen mit dem Verkauf der früher schon produzierten Waren, um etwas Startgeld zu haben.

Einer, der sofort mitmachte, ist Dimitris Koumatzioulis. Der stämmige Mann Mitte vierzig arbeitete neun Jahre lang bei Viome. Jetzt steht er wieder an den Maschinen. Die Belegschaft wechselt sich bei den Tätigkeiten ab, Koumatzioulis arbeitet heute in der Produktionshalle für Reinigungsmittel. Er ist Vater zweier Kinder, seine Frau ist arbeitslos. «Nach der Flucht der Betriebsleitung blieb uns nur die Möglichkeit, die Fabrik zu übernehmen und sie selbstständig weiterzubetreiben», sagt er. «Und dafür kämpfen wir jetzt mit allem, was uns zur Verfügung steht.»

Dimitris Koumatzioulis ist konzentriert bei der Sache. «Wir müssen kämpfen – für unsere Familien, für unsere Würde und für die Arbeiterklasse», sagt er und hantiert immer wieder am Fliessband, das Flaschen transportiert. «Anfangs hat uns die Aussicht auf eine dauerhafte Arbeitslosigkeit, auf die gesellschaftliche Nutzlosigkeit schier gelähmt.» Inzwischen ist er aber optimistisch: «Wir haben Nein gesagt, und jetzt haben wir die Produktion in der Hand.» Dann wendet sich Koumatzioulis wieder der Maschine zu und scheint alles um sich herum vergessen zu haben.

Doch es wird allmählich eng. Die fertiggestellten Produkte, die die Arbeiter als Ausgleich für die nach der Fabrikschliessung entgangenen Löhne kurzerhand beschlagnahmten, sind grossteils verkauft. Den letzten Rest wollen sie in diesen Tagen in einer Auktion veräussern, um Rohstoffe einkaufen zu können. Denn auch da gehen die Vorräte zur Neige. Zudem klagen sie derzeit auf eine Auszahlung der Löhne, die ihnen nach der Stilllegung des Werks vorenthalten wurden. «Wir und unsere Familien gehen durch eine schwere Zeit», sagt Koumatzioulis. Eine Unterstützung für Langzeitarbeitslose gibt es in Griechenland nicht.

Andererseits erfahren die Besetzer viel Sympathie. Bereits lange vor ihrer Werksübernahme machten sie ihr Vorhaben publik. Sie trafen sich mit GewerkschafterInnen in Thessaloniki, organisierten Versammlungen und Demonstrationen, richteten Benefizkonzerte aus – und erhielten viel Zuspruch; selbst heute noch kommen Solidaritätserklärungen aus dem ganzen Land. Belegschaftssprecher Anagnostou reist seit Monaten umher und informiert über die Initiative; zuletzt war er in Berlin. Alexis Tsipras, Vorsitzender des linken Bündnisses Syriza, besuchte die Arbeiter auf dem Werksgelände. Andere genossenschaftlich organisierte Projekte helfen mit Tipps – vor allem zu argentinischen Belegschaften gibt es gute Kontakte. In Argentinien existieren noch immer 200 selbstverwaltete Industriebetriebe, die nach Betriebsbesetzungen zur Zeit der argentinischen Wirtschaftskrise 2001 entstanden waren und seither demokratisch geführt werden.

Zehn Euro am Tag

Auch Marios Kostopoulos erscheint jeden Tag zur Arbeit. Der 36-Jährige hat vor ein paar Jahren geheiratet und lebte bis vor kurzem mit seiner Frau in einer Mietwohnung. «Selbst in Griechenland, wo die Kinder traditionell erst spät das Elternhaus verlassen, war es früher üblich, dass man ab dreissig eine eigene Wohnung hat», sagt er. Doch verlor erst seine Frau ihren Job, kurz danach zahlte auch Viome keinen Lohn mehr. Und so hätten sie notgedrungenerweise die Unterstützung ihrer Eltern in Anspruch nehmen müssen. Dem gross gewachsenen Arbeiter ist das sehr unangenehm.

Was ihn jedoch aufbaut, ist die enorme Solidarität. Immer wieder bringen Leute Lebensmittel- oder Kleiderspenden auf das Werksgelände. Heute liegt in einer der Hallen ein Stapel Kinderkleidung auf einem Tisch. Zwei Dutzend Arbeiter stehen um ihn herum und suchen Passendes für die eigenen Kinder heraus – und für Kinder von bekannten oder befreundeten Familien. Auch Spendengelder treffen regelmässig ein. Die kommen in eine gemeinsame Kasse, die derzeit jedem Viome-Arbeiter zehn Euro pro Tag auszahlt. Leben kann davon allerdings keiner.

Trotzdem geben sie nicht auf. Sie entwickeln neue Mixturen für Waschmittel auf natürlicher Basis, erweitern ihre Produktpalette, entwerfen neue Verfahren. Die grossen Auseinandersetzungen stehen aber noch bevor. So fürchtet Makis Anagnostou, dass das Grundstück, auf dem das Werk und die anderen Betriebe der Familie Filippou stehen, demnächst zum Verkauf angeboten werden soll. «Das würde uns den Boden unter den Füssen wegziehen», sagt er, «denn dann wird wahrscheinlich alles abgerissen.» Ausserdem liegt die Belegschaft im Clinch mit dem Arbeitsministerium, das ihren Antrag auf Gründung einer Genossenschaft genehmigen muss. Und das darüber zu entscheiden hat, ob die Besetzer als legitime Nachfolger der EigentümerInnen gelten können, die sich derzeit bedeckt halten. In Argentinien ist das möglich, in Griechenland bisher nicht. Von einer Änderung der geltenden Bestimmungen hängt viel ab: Solange die Kooperative der Belegschaft offiziell nicht anerkannt ist, kann sie keine Waren einkaufen und keine Produkte in den Handel bringen. Syriza versprach Unterstützung, die anderen Fraktionen des griechischen Parlaments warten jedoch – wie auch die Gewerkschaftsführungen – ab.

Vor der Fabrikhalle hat sich Dimitris Koumatzioulis zu einer kurzen Pause niedergelassen. Vor allem der Austausch mit ähnlichen Projekten im Ausland (ein vergleichbares Unterfangen im industriellen Sektor Griechenlands gibt es nicht) und die Solidarität könnten vieles bewirken, glaubt er. «Wir Arbeiter haben doch überall dieselben Probleme, ob in Italien, Frankreich, Deutschland oder Griechenland. Und die können wir nur lösen, wenn wir zusammenstehen.» Dann erhebt er sich und fügt mit einer guten Portion Kampfgeist hinzu: «Eine Viome bringt noch keinen Frühling, viele Viomes aber schon.» Dann geht er zurück an seine Maschine.

Selbstverwaltete Medien

Ein halbes Jahr lang mussten die 800 Beschäftigten der Tageszeitung «Eleftherotipia» auf ihren Lohn verzichten, weil die Verlagsleitung ihnen kein Geld auszahlte. Dann hatten sie genug. Zuerst streikten sie, 45 Tage lang, dann nahmen sie das Blatt selbst in die Hand. Im vergangenen Jahr gab die Belegschaft drei Ausgaben der Zeitung unter dem Namen «Eleftherotipia der Redaktoren» heraus. Als der Verlag ihnen die Nutzung des Namens untersagte, gründeten einige der MitarbeiterInnen eine eigene Zeitung: «Efimerida ton Syndakton» (Zeitung der Redaktoren) erscheint seither täglich und hat eine Auflage von durchschnittlich 8500 Exemplaren.

Ähnliches versucht auch die Belegschaft des Radiosenders Flash 961. Ab Juni 2012 wurde sie nicht mehr entlohnt und sollte in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Doch 33 der insgesamt 52 Beschäftigten wollten sich nicht einfach abschieben lassen. Seither kämpfen sie um eine eigene Frequenz; das Verfahren ist noch im Gang. Bis es abgeschlossen ist, halten sie sich mit kleinen Jobs und der Unterstützung ihrer Familien über Wasser.