Industriepolitik: «In einem Jahr könnten wir produzieren»
Seit über drei Jahren besetzen Arbeiter:innen eines ehemaligen Autozulieferers eine Fabrik bei Florenz. Nun sammelt die Solidaritätsbewegung eine Million Euro, um den Betrieb selbst in die Hände zu nehmen und ökosozial zu transformieren.

Massimo Cortini sitzt in einem Büro der Fabrik, in der er mehr als zwanzig Jahre lang Autoteile produzierte. Sie liegt in Campi Bisenzio, einem Industrievorort von Florenz. Obwohl die Produktion in den riesigen Hallen, die einst der britischen Firma GKN Driveline gehörten, schon über drei Jahre stillsteht, ist Cortini oft dort anzutreffen. «Gemeinsam mit vier Kollegen mache ich gerade eine Schicht», erzählt er und lächelt in die Handykamera. Die Schicht dient der Überwachung des Fabrikgeländes, auf dem sich Maschinen im Wert von mehreren Millionen Euro befinden. Einige könnten schon in naher Zukunft unter Führung einer Genossenschaft Solarpanels produzieren.
Doch diese Vision scheint nicht immer gleich realistisch. «Meine Kollegen und ich sind sehr müde.» So beschreibt Cortini die Stimmung nach über drei Jahren Arbeitskampf in der Fabrik, die die WOZ letztes Jahr besuchte (siehe WOZ Nr. 28/23). Begonnen hatte alles im Juli 2021, als die über 400 Angestellten des Autozulieferers die Kündigung erhielten, weil das Unternehmen die Produktion ins günstigere Ausland verlagerte. Eine Mehrheit der Arbeiter:innen, die bereits zuvor gut organisiert waren, vor allem im basisgewerkschaftlichen Collettivo di Fabbrica GKN, besetzte darauf die Fabrik. Das heisst, sie bildeten eine «permanente Versammlung», denn eine offizielle Besetzung wäre illegal.
Was als lokaler Arbeitskampf begann, entwickelte sich schnell zur vielleicht grössten ökosozialistischen Hoffnung der Gegenwart in Europa. Das liegt vor allem daran, dass das Fabrikkollektiv schon kurz nach der Besetzung einen Plan für eine ökologische Transformation der Fabrik entwarf. Gleichzeitig kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit mit der italienischen Initiative Fridays for Future. Die Bewegungen sind seither sowohl ideell als auch persönlich eng verbunden und unterstützen sich gegenseitig. Was den Plänen des Collettivo im Weg steht, ist insbesondere der Besitzer des ehemaligen GKN-Werkes, Francesco Borgomeo.
Hunger und Hungerstreik
«Er lässt uns verhungern», sagt Cortini über den Eigentümer. Dieser hatte die Fabrik im Dezember 2021 übernommen und versprochen, Investor:innen für ein neues Industrieprojekt zu finden, seither aber keinen Finger gerührt. Obwohl mehrere Gerichtsentscheide den Arbeiter:innen recht geben, erhielten sie monatelang gar keinen Lohn oder Lohnersatz, zeitweise nur Kurzarbeitsgeld, mal eine staatliche Entschädigung. Seit Januar sind sie wieder gänzlich ohne Einkommen. Im Juni dieses Jahres traten darum mehrere Arbeiter in einen dreizehntägigen Hungerstreik – ohne Erfolg. Viele der ursprünglich über 300 im Kollektiv Engagierten waren gezwungen, sich einen anderen Job zu suchen – «um zu überleben», wie Cortini betont. Er selbst könne auf die Unterstützung seiner Frau zählen. Trotz der prekären Umstände sind noch rund 140 Arbeiter:innen in der Fabrik engagiert.
Ein paar Hoffnungsschimmer gibt es: So ist etwa der Plan zur Umgestaltung oder «Reindustrialisierung» der Fabrik weit fortgeschritten. «Die neue Produktion könnte bereits in einem Jahr beginnen», erzählt Alberto Manconi. Der Geografiedoktorand ist Teil einer Gruppe von Wissenschaftler:innen, die das Kollektiv auf dessen Wunsch bei der Ausarbeitung des Plans unterstützen. In Zukunft sollen Solarpanels hergestellt und montiert, aber auch recycelt werden – ein wichtiger Punkt für das Kollektiv, so Manconi: «Wir sind uns der Gefahr der Ausbeutung von Mensch und Natur bewusst, wenn es um den Abbau von Rohstoffen geht.»
Ebenfalls ungebrochen ist die breite Solidarität, die die Arbeiter:innen erfahren: In der Region, wo der Collettivo bereits vor der Besetzung stark verankert war, habe sich die Unterstützung sogar noch intensiviert seit letztem Jahr, als es in Campi Bisenzio zu einer furchtbaren Überschwemmung kam, erzählt Manconi. «Die Fabrik wurde zum Zentrum der Solidarität, von wo aus sich Tausende Helfer:innen organisierten.» Es sei auch ein Moment gewesen, in dem sich auf erschreckende Weise die Notwendigkeit ihres Vorhabens angesichts des Klimawandels manifestierte.
Entscheid Mitte Oktober
Auch international ist der Collettivo bestens vernetzt. So waren die Arbeiter:innen in den vergangenen Jahren unermüdlich in Europa auf Tour, um von ihrem Kampf zu erzählen; und nicht zuletzt auch, um Genossenschafter:innen zu finden. Die neue Fabrik soll von einer Genossenschaft geführt werden, dafür will der Collettivo bis Ende September eine Million Euro sammeln. Aktuell fehlen noch Genossenschaftsanteile im Wert von rund 80 000 Euro. Auch Schweizer Aktivist:innen sammeln mit: Die Bewegung für den Sozialismus und der Klimastreik bewerben auf ihren Kanälen ein Crowdfunding, dessen Ertrag vollumfänglich dem Genossenschaftskapital zufliessen soll.
In wenigen Wochen sollte es endlich mehr Klarheit über die Zukunft der Fabrik und ihrer Arbeiter:innen geben: Mitte Oktober entscheiden Genossenschafter:innen und Kollektivmitglieder an einer Versammlung, wie und wo es weitergeht – denn die Fabrik gehört nach wie vor Borgomeo. Der Collettivo hofft auf eine Intervention durch den Staat. Eine konkrete Gesetzesvorlage, die ein Eingreifen ermöglichen würde, liegt bereits vor – wurde aber bis jetzt nicht behandelt.