Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (31): Abzocker (sind das alleinige Übel)

Nr. 24 –

Schamlose Abzocker wühlen die Volksseele auf. Kürzlich haben sie ihre Quittung an der Urne bekommen. Wird jetzt alles besser?

Haushoch gingen die Wogen, als kurz vor der Abstimmung über die Abzockerinitiative bekannt wurde, dass der abtretende Novartis-Präsident Daniel Vasella 72 Millionen Franken Abgangsentschädigung erhalten sollte. Auf allen Kanälen wurde Empörung laut – Facebook, Twitter, Onlineforen, Leserbriefspalten. Und der Konsens lautete: Weg mit den Abzockern, her mit mehr Gerechtigkeit.

Schon etwas weniger hoch wogte die Empörung, als die AktionärInnen an der UBS-Generalversammlung in einer Konsultativabstimmung den Vergütungsbericht der Grossbank grossmehrheitlich abnickten – obwohl die Bank bei einem Jahresverlust von 2,5 Milliarden Franken dennoch Boni in gleicher Höhe entrichtete. Und nicht einmal ein Kräuseln bewegte das Meer der Onlinecommunity, als Bundesfinanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf kürzlich die geplante Unternehmenssteuerreform III (USR III) vorstellte. Obwohl von der Reform und den vorgesehenen Gewinnsteuersenkungen einzig die Unternehmen (und damit die in ihrem Innern hockenden «Abzocker») profitieren – während die breite Bevölkerung draufzahlt, durch Sparmassnahmen und Mehrwertsteuererhöhung. Eine weitere Umverteilungsübung von unten nach oben also. Dennoch: keine Kommentare auf Facebook, kaum ein Eintrag in den Kommentarspalten der Onlinemedien. Die Empörung blieb aus. Nicht einmal die vom Bund als vage Möglichkeit zur Kompensation der Steuerausfälle skizzierte (und politisch chancenlose) Erhöhung der Dividendenbesteuerung beziehungsweise der Einführung einer Kapitalgewinnsteuer wurde aufgegriffen – obwohl die USR III die ideale Möglichkeit böte, diese Forderung zu legitimieren.

Es scheint, als ob die Empörten, die Social-Media-NutzerInnen, die OnlinekommentatorInnen, nur dann richtig in Fahrt kommen, wenn sie ihren Ärger über die Ungleichheit auf einzelne und dazu prominente Persönlichkeiten, einen «Abzocker» wie Daniel Vasella, projizieren können. Wobei ein Vorzeigesportler wie Roger Federer, der letztes Jahr mit 71 Millionen Dollar fast gleich viel verdient hat, wie Vasella auf fünf Jahre zugesprochen wurde, barmherzig verschont wird. In der Unterscheidung steckt immerhin ein Körnchen Erkenntnis: Federer zerstreut uns die Sinne durch ein wenig Spiele; Vasella führt uns das harte Brot unserer Lohnarbeit direkt vor Augen.

Ansonsten aber gilt: Das Medium ist die Botschaft. So wie Facebook die exhibitionistische Persönlichkeit hervortreibt, wird auch die Empörung personalisiert. So laut es bei der Person Vasella war, bei systemrelevanten Fragen – die die Umverteilungsproblematik weit mehr beeinflussen als die Boni einiger Manager – bleibt es bedrückend still. Das treibt Wasser auf die Mühlen all jener, die die Forderung nach einer gerechteren Verteilung als Auswuchs blanken Neids abtun. Tatsächlich fragt sich die Schreibende manchmal auch, ob die empörten KommentatorInnen vielleicht doch nur vom Neid getrieben werden.

Oder ist das Ganze zu kompliziert? Ist es einfach leichter, auf die Reichen zu wettern, als Mindestlöhne oder den Stopp der Steuersenkungsstrategie zu fordern? Muss alles auf simple Schlagworte heruntergebrochen werden, damit sich die Unzufriedenen mobilisieren lassen? Und wenn die Linke das mitmacht – sind wir dann nicht genau bei jenen Mitteln angelangt, mit denen die Partei ganz rechts aussen ihrerseits die Unzufriedenen abholt?

Das Problem sind ja nicht die Abzocker, das Problem ist ein System, das die Abzocke erst zulässt. Und die Abzocker lassen sich nicht abschaffen, solange die Rahmenbedingungen, in denen sie tun, was sie tun (nämlich abzocken), bestehen bleiben. Also, liebe Onlinecommunity, lasst euch nicht von der Versuchung durch den Boulevard leiten, sondern packt das Problem an der Wurzel: Falls das Referendum zur USR III kommt, bitte ein grosser Shitstorm. Für einmal nicht gegen die Chefs der Rohstofffirmen, die davon profitieren werden, sondern gegen die Reform selbst. Empört euch über die Tiefsteuerpolitik und diejenigen, die sie verantworten. Haltet ihr das nicht für nötig, dann seid ihr wohl doch nur eins: denkfaule NeiderInnen.