Antisemitismus: Die andauernde Macht der alten Stereotype

Nr. 25 –

Judenfeindlichkeit durchzieht die Geschichte des Christentums. Eine Studie argumentiert: In heutigen antiisraelischen Aussagen steckt die alte Phobie.

«Juden sind das Übel der Menschheit und bedrohen den Weltfrieden.» – «Teufelsbrut! Antichristen.» Hasstiraden aus vergangenen Zeiten? Weit gefehlt: Die Zitate stammen aus den Jahren 2006 und 2010.

Zu finden sind solche Aussagen im Buch «Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert» der Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel und des Historikers Jehuda Reinharz. Sie untersuchten rund 14 000 Briefe, E-Mails und Faxe. Alles Texte, die zwischen 2002 und 2012 beim Zentralrat der Juden in Deutschland und der israelischen Botschaft in Berlin eingingen. Das Resultat: Rund siebzig Prozent der Zuschriften sind als antisemitisch einzustufen. Dabei ordnen sich die VerfasserInnen der antisemitischen Aussagen mehrheitlich der politischen Mitte zu. Die Verbalantisemitismen – so nennen Friesel und Reinharz judeophobe sprachliche Äusserungen – stammen nicht selten von AkademikerInnen. Diese bezeichnen sich zuweilen ausdrücklich als HumanistInnen und versuchen, ihre Äusserungen mit Floskeln wie «Ich bin ja nicht judenfeindlich, aber …» zu legitimieren.

Genese im Christentum

Nach welchen Mustern äussert sich heute antisemitisches Gedankengut in der Sprache? Und gibt es einen Unterschied zwischen früher und heute? Um diese Fragen zu beantworten, greifen die AutorInnen zu den Anfängen der negativen Stereotype gegenüber JüdInnen. «Die Genese dieser gegen die Existenz der Juden gerichteten Weltdeutung liegt in der Abspaltung von Juden- und Christentum.» Das antijüdische Stereotyp vom «Juden als Fremden» gab es nach dem ersten jüdischen Exil zwar schon um 500 vor unserer Zeitrechnung in kleinasiatischen Städten, wurde aber durch das Christentum massiv verstärkt. Diese Generalisierung erzeugt ein falsches Bild einer einheitlichen sozialen und kulturellen Gruppe und liegt bis heute praktisch allen Verbalantisemitismen zugrunde. Später kamen weitere Stereotype hinzu, etwa «Juden als Wucherer», «Juden als Störenfriede» oder, seit ein paar Jahrzehnten, «Juden beuten den Holocaust emotional aus». Letzteres taucht in den Zuschriften an die beiden Institutionen besonders häufig auf: «Es kann keine Freikarte nach mehr als sechzig Jahren geben, immer die gleiche Keule zu benutzen, um seine eigenen Interessen brutal durchzusetzen.»

Im «neuen Antisemitismus des 21. Jahrhunderts» werden vor allem JüdInnen und Israelis gleichgesetzt, als ob sich eine universale jüdische Volks- und Wertegemeinschaft im Staat Israel verkörpere. So stehen heute der Nahostkonflikt und die Frage nach der Legitimität Israels im Vordergrund des Antisemitismus. Kritisiert würde dabei, so Schwarz-Friesel und Reinharz, der Staat Israel als Ausdruck jüdischen Lebens schlechthin.

In allen Gesellschaftsschichten

Ist Kritik an der Politik Israels überhaupt möglich, ohne antisemitisch zu sein? Schwarz-Friesel und Reinharz bejahen die Frage grundsätzlich. In den untersuchten Zuschriften aber werde die Grenze legitimer Kritik zumeist überschritten. Wenn antijüdische Stereotype benutzt würden, um den Staat Israel als solchen zu diskreditieren, liege verbaler Antisemitismus in der Form von Antiisraelismus vor. Dabei werden antisemitische, antiisraelische und antizionistische Argumente miteinander verschmolzen: «Israelis sind Störenfriede … sie sollten aus der Geschichte gelernt haben und sich nicht darauf verlassen, dass Israelis alles dürfen.»

Judeophobe Denk- und Gefühlsstrukturen, die seit beinahe zwei Jahrtausenden im kollektiven Gedächtnis bestehen, werden ständig aktualisiert und sind laut Studie in allen Gesellschaftsschichten anzutreffen. Auch der Holocaust habe kaum eine Änderung bewirkt, weil dessen ideologische Vorbedingungen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ungenügend aufgearbeitet worden seien.

Die Studie kommt etwas gar trocken und mit sprachwissenschaftlichen Begriffen überlastet daher. Dennoch veranschaulicht sie, wie sich Stereotype in den Köpfen der Menschen verankert haben, ohne noch als antisemitisch wahrgenommen zu werden. Und sie zeigt die Macht der Sprache, wonach Wörter handlungsanleitende Realitäten schaffen, die wenig mit der tatsächlichen Welt gemeinsam haben.

Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Walter de Gruyter. Berlin 2013. 444 Seiten. Fr. 108.90