Energiepolitik: Wie werden wir den Dreckstrom los?
Der Ausstieg aus der Atomwirtschaft ist nicht nur machbar, mit ihm würde auch die Wasserkraft wieder zum Goldesel, erklärt der Energieexperte Peter Vogelsanger.
WOZ: Peter Vogelsanger, Sie sind ein entschiedener Kämpfer gegen Kohlekraftwerke. Die Gegnerinnen und Gegner eines Ja zum Atomausstieg am 27. November behaupten, es würde zu Kohlestromimporten führen. Können Sie das verantworten?
Peter Vogelsanger: Der Kohlestromanteil in Deutschland und der EU nimmt ab und wird weiter abnehmen, auch wenn die Schweizer AKWs stillstehen. Die CO2-Emissionen von grossen Anlagen wie Kohlekraftwerken sind in der EU beschränkt. Zudem gibt es einen Absenkpfad: Es stehen von Jahr zu Jahr weniger Emissionsrechte zur Verfügung. Aus diesen beiden Gründen kann der Schweizer AKW-Ausstieg diese Emissionen unmöglich erhöhen, und das ist entscheidend.
Da fragen wir uns, wieso die Ausstiegsgegnerinnen und -gegner das Gegenteil behaupten.
Weil sie den Klimawandel als Argument entdeckt haben und sogar diejenigen, die eben erst vehement für den Bau von Kohlekraftwerken eintraten, plötzlich Kohlestromimporte befürchten. Ein Beispiel: Noch 2013 verteidigte der Bündner Regierungsrat Mario Cavigelli den Bau eines riesigen Kohlekraftwerks durch den Stromkonzern Repower in Kalabrien. Jetzt behauptet er als Kopräsident der Ausstiegsgegner plötzlich, es würde Kohlestromimporte geben, und er finde darum den Atomausstieg «schelmisch und scheinheilig».
Wie soll es nach dem Atomausstieg weitergehen?
Wir müssen hundertprozentig ohne fossile Energieträger auskommen, das ist ein absoluter Imperativ.
Absoluter Imperativ?
Ja, das heisst, wir müssen das Nullemissionsziel radikal und schnell auf der Produktionsseite lösen: Weg von den AKWs, raus aus den fossilen Energieträgern. Das erklärt seit 2013 auch der Weltklimarat der Vereinten Nationen. Er tut es spät, aber immerhin.
Deutschland nahm und nimmt AKWs vom Netz. Hat dort der Kohlestromverbrauch zugenommen?
Deutschland hat bewiesen, dass man AKWs abschalten kann, ohne dass die Produktion aus fossilen Energieträgern zunimmt. Der noch grössere Erfolg der deutschen Energiewende ist, dass Strom aus Sonne und Wind so kostengünstig geworden ist, dass er sogar gegenüber dem Kohlestrom konkurrenzfähig ist. Jetzt muss die Schweiz diesem Beispiel folgen und auf saubere Energie setzen. Wir sollten auch von Schweden lernen …
Schweden beschloss nach dem AKW-Unfall von Three Mile Island den Atomausstieg. Was ist daraus geworden?
Es erstaunt mich, dass man so wenig davon spricht. Schweden beschloss den Ausstieg schon 1980, verzichtete aber auf einen Abschaltfahrplan. Die Stilllegung sollte dann erfolgen, wenn der Atomstrom durch anderen Strom ersetzt sein würde. Die AKWs laufen in Schweden immer noch, und in der Zwischenzeit hätte es in Forsmark beinahe einen GAU gegeben. Das Beispiel zeigt eindrücklich: Ohne Abschaltdatum findet der Umbau nicht statt, und die gefährlichen Kraftwerke bleiben am Netz. Solange sie weiterlaufen, können die Erneuerbaren ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Und etwas anderes finde ich genauso entscheidend.
Was denn?
Die AKWs absorbieren die Umweltorganisationen. Erst wenn die AKW-Problematik vom Tisch ist, können sie sich dem viel schwierigeren Thema Klimaschutz zuwenden.
Die Schweizer Stromkonzerne haben massiv in Kohle- und Erdgaskraftwerke im Ausland investiert. Wird dieser Strom nun in die Schweiz kommen?
Diese Kraftwerke produzieren für den europäischen Markt. Sie wurden nicht gebaut, um die Schweiz zu versorgen, aber natürlich speisen sie in den Netzverbund ein, in den auch die Schweiz eingebunden ist. Die Milliarden, die unsere Stromkonzerne mit diesen fossilen Kraftwerken im Ausland verloren haben, werden totgeschwiegen. Dabei sind diese Verluste der Hauptgrund für die Krise der Konzerne. Und jetzt schieben die gleichen Konzerne, die den EU-Strommix zusätzlich verdreckt haben, Politiker vor, die vor Dreckstromimporten warnen. Das ist absurd.
Wie sollen fossile Kraftwerke vom Markt verdrängt werden?
Die Schweiz hat die potenziell grossartigste Erfindung aller Zeiten gemacht: Sie erhebt eine Abgabe auf die Belastung von Gemeingut, der Luft, und gibt die Einnahmen gleichberechtigt an die Leute zurück. Das ist wirksam und gerecht. Die CO2-Abgabe mit Ökobonus ist der Kern unserer Klimagesetzgebung. Andere Länder sollten ebenfalls diesen Weg beschreiten.
Können wir den Import von Dreckstrom nicht einfach verbieten?
Ja, praktisch wäre das möglich, mit einer Dreckstromabgabe, obschon Bundesrätin Leuthard das bestreitet. Aber es wäre blosse Gewissensberuhigung, denn auf den Produktionsmix im europäischen Netzverbund hätte das Importverbot keinen Einfluss. Mit dem Atomausstieg können wir dagegen diesen Produktionsmix verändern, und die CO2-Abgabe mit Ökobonus ist das Mittel der Wahl gegen den Klimawandel.
Wir haben in der Schweiz viel Wasserkraft. Welche Rolle spielt diese Energieform beim Atomausstieg?
Bezüglich der Versorgungssicherheit hat sie eine gewisse Bedeutung, weil sie den Spitzenverbrauch abdecken kann, was aber auch mit Importen möglich ist. Umgekehrt ist der Atomausstieg auch wichtig für die Wasserkraft.
Inwiefern?
Mit mehr erneuerbaren Energien werden wir Strom häufiger praktisch gratis zur Verfügung haben. Weil der grösste Teil der Produktion dann aber fluktuiert, wird Strom oft knapp, also teuer sein. Dann kann die Wasserkraft ihre Karte ausspielen. Wenn der Ausstieg aus den AKWs einsetzt und zusätzlich die Kosten für CO2-Emissionen greifen, wird die Wasserkraft wieder zum Goldesel.
Gilt das auch für Pumpspeicherkraftwerke?
Diese würden auch wieder sehr rentabel, wenn sie mit sauberem Strom statt mit Atom- und Kohlestrom gefüllt würden. Gibt es dagegen eine zögerliche Energiewende voller Subventionskonzepte, werden zwar zusätzliche saubere Kraftwerke gebaut, aber dreckige und gefährliche nicht stillgelegt. Dann wird die Wasserkraft kaum rentieren.
Viele AKW-Gegnerinnen und -gegner setzen grosse Hoffnungen auf die Wasserkraft …
Es gibt gerade eine romantische Verklärung der Wasserkraft, obwohl diese nicht nur ökologisch ist. Effizienzsteigerungen in den bestehenden Wasserkraftanlagen sind wohl unumstritten, und der Gewässerschutz kann und muss verbessert werden, zum Beispiel bei den Restwassermengen. Aber ich glaube nicht an einen Ausbau der Wasserkraft in grossem Stil.
Wie werden wir als Konsumentinnen und Konsumenten künftig Strom verbrauchen?
Deutliche Veränderungen werden stattfinden, wenn Preisschwankungen wegen des fluktuierenden Sonnen- und Windstroms in Echtzeit beim Verbraucher ankommen. Das sollte gesetzlich vorgeschrieben werden. Damit werden Heizungen mit Speichern interessant und Geräte, die ihren Betrieb aufgrund der Preisschwankungen anpassen.
Genügt das, um die Produktionsschwankungen aufzufangen?
Wenn beispielsweise die Sonne ein paar Tage nicht scheint, können wir das mit Pumpspeichern oder mit Batterien ausgleichen oder eben zusätzlich den Verbrauch anpassen. Was wir nicht so leicht ausgleichen können, sind saisonale Schwankungen. Wir können rund fünfzehn Prozent des Stroms, den wir während eines Jahres verbrauchen, in Stauseen speichern. Eine mögliche Lösung ist, dass wir Überkapazitäten bei der Sonnen- und Windenergie bauen. Technisch ist das kein Problem, denn man kann diese Kraftwerke problemlos vom Netz trennen, wenn sie zu viel produzieren.
Ist die Produktion von erneuerbarem Strom im Ausland eine Option?
Die Länder, die heute vom Erdöl leben, brauchen dringend eine andere wirtschaftliche Basis. Es kann sinnvoll sein, von dort Sonnenstrom zu importieren. Genauso bleiben Exporte sinnvoll, besonders von ausgesprochen wertvollem Strom aus Wasserkraftwerken.
Glauben Sie, dass wir uns von der Idee verabschieden müssen, uns autark im Inland zu versorgen?
Bisher gab es die Möglichkeit gar nicht, aber jetzt, mit günstigem sauberem Strom, gibt es sie prinzipiell. Wir müssen entscheiden, wie wichtig uns eine einheimische Energieversorgung in Bezug auf Versorgungssicherheit, Arbeitsplätze und Aussenhandel ist. Da bietet die Energiewende neue Chancen. In hoch gelegenen Alpentälern könnten wir Solarstrom günstiger produzieren als in Deutschland. Die Gebirgskantone müssen erst noch erkennen, was für ein riesiges Potenzial sie neben der Wasserkraft auch noch haben.
Heisst das, ganze Bergtäler mit Solarpanels zu verbauen?
Eine Vollversorgung mit sauberer einheimischer Energie, also auch der Ersatz von Erdöl und Erdgas, würde eine andere Einstellung beim Landschaftsschutz erfordern. Ich glaube aber, dass ein gewisser Importanteil sinnvoller ist. Es gibt im Süden günstige Sonnenenergie, im Norden günstigen Windstrom.
Die Schweiz fördert heute die erneuerbaren Energien. Setzt sie den Fokus richtig?
Wir sollten dreckige Energie so stark verteuern, dass sie eindeutig nicht mehr konkurrenzfähig ist, dann braucht es auch keine Förderung.
Würden Sie etwas anderes fördern?
Ich würde sehr viel mehr Geld in die Forschung für eine saubere Energieversorgung und -nutzung investieren.
Peter Vogelsanger
Der diplomierte Maschineningenieur ETH und Energieingenieur FH Peter Vogelsanger (55) war in der angewandten Energieforschung tätig. Seit 2008 arbeitet er selbstständig als Umweltschützer mit dem Fokus Klimaschutz. Er finanziert seine Tätigkeit mit Spenden, damit seine Unabhängigkeit sichergestellt ist.
Vogelsanger kämpft dafür, dass Schweizer Energieunternehmen, besonders die Südostschweizer Repower, auf Investitionen in Kohlekraftwerke verzichten. Auf retropower.ch, der «unerfreulichen Seite der Schweizer Energiewirtschaft», wie die Website im Untertitel heisst, beobachtet und kritisiert er die Energiekonzerne. Peter Vogelsanger lebt und arbeitet in Zürich.