Freihandelsabkommen: Der scheinheilige moralische Aufschrei

Nr. 27 –

Die US-Spionage und das geplante transatlantische Freihandelsabkommen operieren unter Vorspiegelung falscher Tatsachen.

«Das geht nicht. Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg», kommentierte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den Lauschangriff der USA auf die EU. Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, forderte gar: «Die EU muss sofort die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA unterbrechen.»

Ob die Empörung der europäischen PolitikerInnen echt ist oder nur gut gespielt, weiss man nicht so genau. Man kann es in dieser John-le-Carré-Welt gar nicht genau wissen. Die britische Zeitung «Guardian» veröffentlichte am Wochenende die Enthüllungen von Wayne Madsen, einem weiteren Whistleblower der NSA (National Security Agency). Der ehemalige Spion sagte aus, die Regierungen von Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern hätten vom Lauschangriff der USA nicht bloss gewusst, sondern seit Jahr und Tag aktiv mit der NSA zusammengearbeitet.

Nach kurzer Zeit wurde der «Guardian»-Artikel wegen Unglaubwürdigkeit des Informanten wieder vom Netz genommen. Der in den USA berühmt-berüchtigte Madsen behauptet nämlich in seinen vielen Blogs auch, dass Präsident Barack Obama schwul sei oder dass der israelische Geheimdienst die Terroranschläge vom 11. September organisiert habe. Andererseits hat der Verschwörungstheoretiker in der Vergangenheit etliche zutreffende Geheimdienstanalysen geliefert. Alles in allem ist Madsen wohl so verrückt und konspirativ wie das Spionagemilieu selbst. Oder wie Ben Rhodes, stellvertretender Sicherheitsberater von Präsident Obama, der den EU-Spionageskandal so kommentiert: Die US-amerikanischen und die europäischen Geheimdienste hätten so enge Verbindungen, dass die aufgetretenen Konflikte und Bedenken am besten durch ebendiese Kanäle, also weiterhin im Geheimen, diskutiert und gelöst würden.

In der Öffentlichkeit zeigen sich Europas PolitikerInnen also schockiert über die dreisten Spitzeleien ihres überseeischen Bündnispartners; dieser verhalte sich wie der russische KGB und die ostdeutsche Stasi. Bestenfalls ist dieser moralische Aufschrei ehrlich empfunden. Intellektuell unredlich ist die Reaktion aber in jedem Fall. Denn im Kalten Krieg hat ja nicht bloss die Sowjetunion den Westen ausspioniert, es wurde auch von West nach Ost bespitzelt. Und zwar unter Federführung der USA, die in dieser Zeit einen imposanten Überwachungsapparat aufbauten. Bis 1989 war das geteilte Deutschland ein bevorzugter Tummelplatz für Nachrichtendienste aus aller Welt, besonders aber aus den USA. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wandten sich die US-Nachrichtendienste mit ihrem gut ausgebauten Spionagenetz Echelon zunehmend der Wirtschaftsspionage zu. Dies belegen Sicherheitsdirektiven von Präsident George Bush senior und Aussagen des damaligen CIA-Chefs James Woolsey. 2001 bestätigte ein Bericht des europäischen Parlaments die Existenz von Echelon. Die offensichtlichsten Spionageeinrichtungen wurden demontiert – und anderswo wieder aufgebaut. So viel zumindest müssen die Merkels und Cohn-Bendits gewusst haben.

Überraschend an den jüngsten Enthüllungen ist höchstens, wie schnell und umfassend die US-Nachrichtendienste offenbar die neuen Kommunikationstechnologien zu nutzen wussten. Haben ihre europäischen BerufskollegInnen die Entwicklung verschlafen, und wurden sie von der NSA total überrumpelt? Oder sind die Geheimdienste der EU-Länder vielmehr auf dem Trittbrett des US-Spionagevehikels mitgefahren? Immerhin hätten einzelne Regierungen auf diese Weise nationale Datenschutzbestimmungen umgehen und ihre BürgerInnen sozusagen «legal» von andern, nämlich von befreundeten ausländischen Nachrichtendiensten, überwachen lassen können.

Zugegeben, die Idee, dass finstere oder zumindest undemokratische Mächte zusammenspannen, um die Welt zu kontrollieren, klingt nach Science-Fiction. Wenn da nur nicht das zweite transatlantische Projekt TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) wäre. Das geplante Handels- und Investitionsabkommen zwischen den USA und der EU geht nämlich in die gleiche Richtung: Es beabsichtigt die Aushebelung nationaler und demokratisch bestimmter Regulation mittels globalisierter Meta- oder Parallelstruktur, in diesem Fall der Macht von Grosskonzernen. Zwar versprechen die BefürworterInnen der «grössten Freihandelszone der Welt» Hunderttausende von Arbeitsplätzen, höhere Pro-Kopf-Einkommen und Investitionsflüsse in Milliardenhöhe. Doch solch rosige Freihandelsprognosen haben sich bisher nie bewahrheitet.

Da die Zölle im Verkehr zwischen den Handelspartnern USA und EU heute schon sehr tief sind, wird das geplante Abkommen, das grösstenteils im Geheimen verhandelt wird, vor allem aussertarifliche Handelshemmnisse abbauen, etwa Umweltschutzbestimmungen, Lohngarantien, Sozialleistungen, verbindliche Arbeitsrechte. Eingeschränkt wird vermutlich auch die nationale Rechtsprechung der Mitgliedstaaten. Denn allfällige Streitigkeiten zwischen InvestorInnen und einem Einzelstaat sollen nicht mehr von ordentlichen Gerichten, sondern von speziellen TTIP-Schlichtungsstellen entschieden werden. Solche Sondergerichte sind wie die Geheimdienstgeschäfte Teil der globalisierten, deregulierten, flexibilisierten und intransparenten Schattenseite der heutigen Weltordnung.