Medientagebuch: Das Nazinetz verstehen

Nr. 29 –

Jan Jirát über antifaschistische BeobachterInnen des NSU-Prozesses.

Vor zwei Monaten ist in München der Prozess gegen die rechtsterroristische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) eröffnet worden. Zwischen 2001 und 2007 töteten die Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe mutmasslich acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer sowie eine deutsche Polizistin. Weil die ermittelnden Behörden keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten sehen wollten, flog der NSU erst vor eineinhalb Jahren auf: Nach einem missglückten Banküberfall brachten sich Mundlos und Böhnhardt um. Zschäpe zündete daraufhin ihre gemeinsame Wohnung in Zwickau an und stellte sich vier Tage später der Polizei.

Seit dem 6. Mai 2013 steht Beate Zschäpe als einzige Überlebende vor Gericht. Und schweigt bis auf Weiteres. Die Bundesanwaltschaft klagt die 38-Jährige der Mittäterschaft an den zehn Morden an. Neben ihr stehen vier weitere Mitangeklagte vor Gericht, die den NSU mutmasslich unterstützt haben.

In den deutschen Medien ist der NSU-Prozess seither ein zentrales Thema. Das grösste Echo löste bisher aber  die Platzvergabe per Losverfahren an die Medien aus. Während bekannte Zeitungen wie die «Zeit» oder die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» leer ausgingen, erhielt die Frauen- und Modezeitschrift «Brigitte» einen der begehrten Plätze im Münchner Oberlandesgericht. Das sorgte in den deutschen und internationalen Medien für rote Köpfe und hämische Reaktionen.

Jenseits des Theaters um die Platzvergabe hat sich eine Internetplattform als verlässlichste, sehr unaufgeregte Prozessberichterstatterin hervorgetan: die «Unabhängige Beobachtungsstelle NSU-Watch: Aufklären und Einmischen». Sie ist aus einer Reihe von antifaschistischen Gruppen und Projekten in ganz Deutschland hervorgegangen; an antifaschistische Informationsdienste und Bildungszentren wie das Apabiz in Berlin angegliedert, finanziert es sich ausschliesslich mit Spenden.

Auch NSU-Watch hatte sich erfolglos um einen Platz im Gericht beworben. Was sich als unproblematisch herausstellte: «Von Anfang an war es weniger ein Problem, aus dem Gerichtssaal zu berichten, als es medial dargestellt wurde. Wir haben immer einen Platz im Saal gefunden. Mittlerweile sind meist nur noch zwei Drittel der Plätze belegt, sodass es ohnehin unproblematisch ist», sagt Felix Hansen, der den Prozess zusammen mit weiteren hauptsächlich ehrenamtlich engagierten BeobachterInnen protokolliert.

Von jedem Verhandlungstag wird auf dem Blog www.nsu-watch.info ein Protokoll erstellt. Dieses ist nüchtern im Ton, präzise in der Beobachtung und hält auch scheinbar Nebensächliches fest, wenn etwa ProzessbeobachterInnen aus dem rechtsextremen Umfeld eingeordnet werden. Seine Protokolle übersetzt NSU-Watch ins Türkische und Englische.

Zudem werden auf dem Blog eine ganze Reihe von Hintergrundartikeln und Recherchen zugänglich gemacht. NSU-Watch begreift seine antifaschistische Arbeit über den Prozess hinaus: «Wir wollen den Rassismus, der unserer Gesellschaft zugrunde liegt, erforschen und analysieren», sagt Eike Sanders von NSU-Watch. Er sei die Ursache dafür, dass die Gefahr des Rechtsterrorismus unterschätzt werde. «Während Bundesanwaltschaft und viele Medien daran festhalten, dass der NSU lediglich eine Drei-Personen-Zelle gewesen sei, finden wir es wichtig, den NSU als Netz zu verstehen und herauszufinden, wer daran beteiligt war.»

Jan Jirát ist Inlandredaktor der WOZ.