Medientagebuch: Abschreckung per Polizei
Helen Brügger über die Hausdurchsuchung bei einem «Le Matin»-Journalisten.
13. August, 6.40 Uhr. Vier Polizisten, ein Untersuchungsrichter und ein Informatiker filzen Wohnung, Keller und Auto eines Journalisten, verhören die Ehefrau, beschlagnahmen Unterlagen und Informatikmaterial. Ludovic Rocchi, dem der Besuch gilt, ist zu diesem Zeitpunkt als Reporter am Filmfestival Locarno. Er kommt drei Stunden später im Hotelzimmer dran und muss der Polizei seinen Laptop aushändigen. Die handfeste Durchsuchung am Wohnort des Neuenburger Redaktors der Zeitung «Le Matin» ist eine Premiere in der Geschichte der Schweizer Medien.
«Das Redaktionsgeheimnis ist gewährleistet.» Der Satz steht wie ein Fels in der Verfassung. Das Redaktionsgeheimnis ist Teil der Medienfreiheit. Es schützt die Demokratie. Nur wenn Medienschaffende ihren InformantInnen absolute Diskretion zusichern können, gelangen sie an brisante Informationen. Das Redaktionsgeheimnis schützt die Quellen der Medienschaffenden, es schützt Notizen, Namen, Adressen, Ton- und Bildaufnahmen. Auskunft über ihre Quellen müssen sie nur geben, wenn es um die Rettung von Menschen aus unmittelbarer Gefahr geht oder wenn es sich um schwere Straftaten wie Gewaltdelikte, organisiertes Verbrechen oder Geldwäscherei handelt.
Nichts dergleichen ist in Neuenburg der Fall. Rocchis Domizil wurde durchsucht, weil er einem Universitätsprofessor in Artikeln kritisch an den Karren fuhr: Dieser habe Plagiat begangen und seinen Lebenslauf gefälscht, lauten die wichtigsten Beschuldigungen. Die Uni leitete eine interne Untersuchung ein, die Kantonsregierung griff den Fall auf; bis Mitte September sollen die Resultate veröffentlicht werden. Doch bis dahin wollte die Neuenburger Justiz nicht warten. Nach Eingang einer Klage des umstrittenen Professors auf Verleumdung, Ehrverletzung und Amtsgeheimnisverletzung ordnete sie die Hausdurchsuchung an. Unerhört und unverhältnismässig ist nicht nur die Durchsuchung am Domizil, sondern auch, dass sie nicht aufgrund der Klage einer Institution, sondern der eines Privaten angeordnet wurde.
Schiesst die Neuenburger Justiz mit Kanonen auf Spatzen? Aussagen des Neuenburger Generalstaatsanwalts lassen vermuten, dass die Justiz ein Signal geben wollte. Verschiedene «affaires» führten in der vergangenen Zeit ins Zentrum der politischen Macht im Kanton, so etwa jene Affäre um Regierungsrat Frédéric Hainard, die ihn Amt und Karriere kostete. Schon damals hiess der Enthüllungsjournalist Ludovic Rocchi. Der Neuenburger Generalstaatsanwalt liess durchblicken, dass der Kanton jetzt genügend «bittere Erfahrungen» mit Amtsgeheimnisverletzungen gemacht habe. Er hätte gar nichts dagegen, wenn Medienschaffende und ihre Auskunftspersonen zur Kenntnis nehmen müssten, dass sie damit Ärger bekommen könnten.
«Le Matin» bereitet einen Rekurs gegen den Durchsuchungsentscheid vor, Rocchis Anwalt liess das beschlagnahmte Material versiegeln. Ein Gericht entscheidet in den nächsten Tagen, ob das Material verwertet werden darf. Falls es entsiegelt würde, bedeutete dies einen inakzeptablen Präzedenzfall. Wenn es genügt, dass die Justiz einen Journalisten als Tatverdächtigen sieht, um in seinen Unterlagen zu schnüffeln, müssen sich die Medien überlegen, wie sie inskünftig ihre verfassungsmässig anerkannte Informations- und Wächterfunktion wahrnehmen können.
Helen Brügger schreibt für die WOZ aus der Westschweiz.