Handwerk: Seele statt «Geiz ist geil» und Judihui

Nr. 38 –

An der Lehrabschlussprüfung fertigte der Schreiner Stephan Senn sein letztes Möbelstück an. Den eigenen Esstisch hat er in einem Billigmöbelhaus gekauft. Trotzdem verteidigt der 23-Jährige das gute Handwerk.

Fragt man in den Städten lebende Eltern, wo sie ihre Kinder ab spätestens dem 14. Lebensjahr sehen, sagen die allermeisten: im Gymi. Und fügen eiligst an: «Freilich nur, wenn sie (er) das will. Aber mit der Matura haben sie halt schon viel mehr Möglichkeiten.»

Es ist nicht lange her, da nickte man bei derartigen Aussagen: Ja, ja, stimmt, absolut.

Seither sind ein paar Jahre vergangen, Jahre der grösstmöglichen Wahlfreiheit. Es ist eine Freiheit, die das Leben nicht unbedingt einfacher macht. Es ist auch eine Freiheit, die Stephan Senn so nicht ganz hatte. Ein intelligenter junger Mann zwar. Aber ohne Sitzleder. Ohne Maturaambitionen. Er hat sich, sieben Jahre ist es her, für die Möbelschreinerlehre entschieden. Er hat sie erfolgreich abgeschlossen. Anschliessend in Genua und New York für Superreiche deren Jacht respektive Apartment ausgebaut («Beide Male eine super Zeit gehabt»). Sich vor zwei Jahren selbstständig gemacht. Seither lebt er von dieser, seiner Arbeit. Nicht schlecht, auch finanziell nicht.

«Das Material wäre teurer gewesen»

Aber als er mit seiner Freundin zusammenzog, war klar, dass sie einen Esstisch kaufen würden. In einem Billigmöbelladen fanden sie einen Massivholztisch, der beiden gefiel. Obwohl Stephan Senn einen solchen selbst schaffen könnte, besser noch dazu, hätte es sich schlicht nicht gelohnt. «Nur schon das Material wäre teurer gewesen als der ganze Tisch, den wir gekauft haben.»

Nach «Geiz ist geil»- und Judihui-Trash-Jahren sehnen sich viele wieder nach Qualität. Nach dem «Echten», «Ehrlichen», nach mehr Holz und weniger Plastik, mehr Seele und weniger Kommerz. Der Soziologe Richard Sennett hat dem Handwerk in seinem gleichnamigen Buch 2008 die Ehre erwiesen, der Schweizer Architekt Gion A. Caminada sieht im guten Handwerk die bessere Strategie für die alpenländische Peripherie als im Tourismus, und jüngst liess sich Erfolgsregisseurin Bettina Oberli beim Streichen eines Holzstuhls ablichten, dem klassischen Handwerk ihren Respekt zollend.

«Man kriegt die Hierarchien zu spüren»

Leisten kann sich echtes Handwerk aber längst nicht jeder und jede, am allerwenigsten der Handwerker, die Handwerkerin selbst. «In unserem Beruf hat man es in der Regel mit Leuten zu tun, die viel mehr Geld haben als man selbst. Man kriegt die Hierarchie ganz klar zu spüren, muss sich unterordnen. Damit hatte ich lange ein Problem, es ging mir wirklich gegen den Strich. Und gleichzeitig fragte ich mich auch ständig, was die im Büro überhaupt machen», sagt Stephan Senn. «Heute sehe ich es so: Jeder soll machen können, was er will und was ihm gefällt. Wichtig scheint mir einfach, dass auch jede und jeder von der Arbeit leben kann. Es leuchtet mir nicht ein, weshalb die einen viel mehr verdienen, als sie benötigen, und es andern nicht mal zum Leben reicht.»

Die eigene Kiste zum Einstieg

Der junge Handwerker arbeitet mehrheitlich auf Montage, das heisst, Senn baut Möbel und Einrichtungen zusammen, direkt bei den KundInnen. An diesem Nachmittag arbeitet er in einem der Büroneubauten beim Zürcher Hauptbahnhof. Auf die Idee, Schreiner zu werden, kam Stephan Senn über den Vater eines Freundes, bei dem er schnuppern konnte.

Senn fand Gefallen an der Arbeit und auch am Material Holz. Und: «Der Lehrmeister war einer der alten Schule. Zum Einstieg liess er mich eine Kiste fertigen. Ich konnte sie behalten. Andere aus meiner Klasse haben sich eine Plastikkiste für ihr Werkzeug gekauft– ich hatte ein erstes selbst gefertigtes Werk, etwas, worauf ich stolz sein konnte. Das und überhaupt die ganze Haltung meines Lehrmeisters hat mich geprägt: gute Arbeit und gutes Material schätzen, ihm Respekt zollen.»

Stephan Senn grinst. «Das ist ja recht altmodisch, irgendwie.» Und oft nicht gerade wirtschaftlich. Handwerk braucht Zeit, und sind die Ansprüche an die Qualität hoch, erst recht. Das passt nicht in die heutige Zeit. Stephan Senn sagt: «Heute muss es meistens ‹möglichst günstig› sein. Logisch, spart man dann zuallererst bei der Qualität des Materials. Und dann bei der Zeit, die man investiert. Auch das geht zulasten der Qualität.»

Wo der Respekt vor dem Material fehlt, fehlt er auch dem Handwerk und dem Handwerker gegenüber. «Deshalb arbeite ich heute lieber für Leute, die bessergestellt sind, aber Wert legen auf Qualität», sagt Senn. «Da kann ich das Handwerk, das ich gelernt habe, wenigstens noch nutzen. Es ist zwar auch eine Gratwanderung, aber ich erfahre immerhin Wertschätzung.»