Russland: Die neue kapitalistische Ruppigkeit

Nr. 6 –

Sobald sich in Russland Bürger oder Gewerkschafterinnen für ihre Rechte einsetzen, müssen sie mit grossen Problemen rechnen. Um die Gesellschaft zu verändern, müssten die Linken mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten.

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi zeigen es wieder: Wenn Russland will, kann es in kurzer Zeit Grosses leisten. Die russische Geschichte ist voll solcher Beispiele. Erinnert sei etwa an den schnellen Aufbau der Stadt St. Petersburg: 1703 wurde der Grundstein für das erste Gebäude der Stadt gelegt, 1712 wurde die Stadt an der Newa bereits zur Hauptstadt Russlands erklärt. Oder an die Moskauer Metro, deren erste Linie 1935 nach nur vier Jahren Bauzeit eröffnet wurde.

Unter Präsident Wladimir Putin will die russische Regierung das Land nun mit grossen Projekten modernisieren, die wie Leuchttürme Anstösse für die Entwicklung geben sollen. So flossen in Sotschi von den gesamthaft investierten 45,7 Milliarden Franken nur 5,7 Milliarden in die neuen Sportanlagen. Der Rest wurde für neue Eisenbahnstrecken, Tunnel, Brücken, Strassen, einen modernisierten Flughafen und Hotels ausgegeben. Nach Sotschi will der Kreml im ganzen Nordkaukasus bis hin nach Dagestan weitere Skiortcluster bauen, um die von Armut geprägte Region wirtschaftlich zu beleben und so auch dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen.

Weitere Schwerpunktprojekte sind der Industriepark in der südlich von Moskau gelegenen Region Kaluga, wo Volkswagen seit fünf Jahren produziert, die 2009 eröffnete grösste Gasverflüssigungsanlage der Welt auf der Insel Sachalin sowie der Aufbau von Eliteuniversitäten und die Förderung jener Forschungsinstitute, die zur Entwicklung marktfähiger Produkte beitragen – ganz nach dem Vorbild der USA. Denn obwohl die USA von regierungsnahen Medien immer wieder als Drahtzieher russlandfeindlicher Revolutionen gebrandmarkt werden, sind sie doch das heimliche Vorbild der konservativen russischen Elite. Diese versucht, die USA etwa in den Bereichen moderner Armeeausrüstung, in der Sozialpolitik mit Grossschulen oder mit bezahlten Leistungen in der Gesundheitsversorgung zu kopieren (siehe WOZ Nr. 43/13 ).

Doch bei solch nationalen Kraftanstrengungen gerät das Wohl der Einzelnen und Schwachen aus dem Blick. «Die Olympischen Spiele in Sotschi sind ein grosses kommerzielles Projekt», sagt der Moskauer Politologe Boris Kagarlitski im Gespräch mit der WOZ. Statt einiger Grossstadien hätte man Hunderttausende Sportplätze im ganzen Land modernisieren müssen. Das wäre auch ein Beitrag zur Verminderung von Drogenkonsum und Kriminalität gewesen.

Fiktive slawische Solidarität

Noch schmücken revolutionäre Denkmäler die Moskauer Metro. Doch russische NationalistInnen arbeiten emsig daran, auch die letzten Reste von Internationalität aus dem Bewusstsein der Menschen zu tilgen. So fordert etwa der russische Ultranationalist Wladimir Schirinowski, Russland solle seinen Milliardenkredit aus der Ukraine zurückziehen. Die Solidarität mit den slawischen Brüdern in der Ukraine, Bulgarien und Serbien sei eine Fiktion. Russland könne sich eher mit US-Präsident Barack Obama einigen als mit den UkrainerInnen, die nur dahin guckten, wo sie die besten Kredite bekämen.

Dem Kreml nahestehende Medien und nationalistische Kreise beteiligen sich auch an der Stimmungsmache gegen ArbeitsmigrantInnen aus Zentralasien. So werden via Facebook gestreute Gerüchte über Zweizimmerwohnungen, in denen angeblich fünfzig MigrantInnen registriert sind, ungeprüft übernommen oder herabsetzende Witze über GastarbeiterInnen erzählt. Auch Bilder öffentlicher Massengebete der Muslime – in Moskau gibt es für Hunderttausende Gläubige gerade mal fünf Moscheen – werden zur gezielten Stimmungsmache gegen muslimische «Eindringlinge» benutzt.

Ein besonders krasser Fall von Rassismus ereignete sich im November in Wladiwostok: Damals war eine hochschwangere Usbekin, bei der bereits die Wehen eingesetzt hatten, von einer Geburtsklinik abgewiesen worden, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Die Frau legte sich in ihrer Not vor das Spital. Erst als die Polizei die Usbekin auf einer Bahre in die Notaufnahme trug, durfte sie dort entbinden. Aus der liberalen Mittelschicht empörten sich nur Einzelne über diesen Vorfall.

«Nein, Humanismus gibt es in Russland nicht», sagt Kagarlitski. Das Problem in Russland sei aber vor allem, «dass es keine Solidarität gibt». So würden die Menschen hier nicht für ein ausgewiesenes Romamädchen auf die Strasse gehen, wie es in Frankreich der Fall war. «Die Menschen bei uns verteidigen noch nicht einmal ihre eigenen Interessen, indem sie gegen die Schliessung von Schulen oder Spitälern protestieren.»

Diese mangelnde Solidarität habe historische Ursachen, sagt Kagarlitski. «Die Sowjetunion war eine Gesellschaft von Individualisten, denn um die kollektiven Interessen hat sich der Staat gekümmert.» Um die individuellen Bedürfnisse zu erfüllen, etwa um bestimmte Waren zu organisieren, hätten die SowjetbürgerInnen jedoch einen grossen Erfindungsreichtum entwickeln müssen. Inzwischen sei in Russland allerdings ein Punkt erreicht, «an dem die Menschen ihre Probleme nicht mehr allein lösen können».

Kampf gegen Gewerkschaften

Viele WissenschaftlerInnen haben inzwischen erkannt, dass sie sich zusammenschliessen müssen, um etwas verändern zu können. Ein gutes Beispiel dafür waren vergangenen Sommer in Moskau die Proteste gegen die Reform der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN), an denen sich allein in Moskau bis zu tausend WissenschaftlerInnen beteiligt hatten. Diese Reform zerstört die bisher breit angelegte Grundlagenforschung des Landes, denn die Regierung will Institute zusammenlegen und Immobilien der RAN verkaufen, um Kosten zu sparen. Eine Emigration ins Ausland, die für viele junge AkademikerInnen bisher ein Ausweg war, ist jedoch keine Perspektive mehr, denn auch in anderen Ländern wird in den Wissenschaften gespart. Hinter den Protesten 2013 stand die Gewerkschaft der RAN, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte Strassenaktionen organisierte – mit einem kleinen Erfolg: Putin verkündete Ende Oktober ein einjähriges Moratorium für die Reform.

Auch an den Universitäten sind die wissenschaftlichen Nachwuchskräfte, Dozentinnen und Mitarbeiter im letzten Jahr aufgewacht. Weil das Bildungsministerium einen Leistungslohn und Effizienzmassnahmen einführte, mit denen etwa die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen kontrolliert werden soll, wurde die unabhängige Gewerkschaft Universitätssolidarität gegründet. Den unabhängigen Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren als Alternative zu den staatstreuen ArbeiterInnenorganisationen gründeten, weht jedoch ein kalter Wind ins Gesicht. In allen Branchen versuchen Unternehmen, Tarifverträge zu umgehen und kämpferische GewerkschafterInnen einzuschüchtern.

Dies belegt ein drastischer Fall bei der Fluggesellschaft Aeroflot von Ende letzten Jahres: Nachdem ein Gericht das Unternehmen verpflichtet hatte, den PilotInnen umgerechnet über 29 Millionen Franken für Nachtarbeit und besondere Belastungen nachzuzahlen, wurden drei Anführer der PilotInnengewerkschaft wegen angeblichen Betrugs verhaftet. Gleichzeitig weigerte sich Aeroflot, mit der Gewerkschaft über einen Tarifvertrag zu verhandeln. Das Verfahren gegen die drei Gewerkschaftsführer sei die Rache des Unternehmens für die Nachzahlungen und beruhe auf falschen Behauptungen, erklärte die PilotInnengewerkschaft.

Miserables Geschichtsbewusstsein

Die neue kapitalistische Ruppigkeit in Russland geht einher mit Geschichtsvergessenheit. Was die Macht als neue nationale Identität anbietet – eine Mischung aus Patriotismus und besinnungslosem Konsum – spricht viele Menschen nicht an. Zwar lässt der Kreml den 9. Mai – den Tag des Sieges über Hitler-Deutschland – jedes Jahr mit grossen Militärparaden und Feuerwerk feiern. Doch viele Jugendliche können mit dem geschichtlichen Ereignis nur noch wenig anfangen. Faschismus – so viel wissen sie aus der Schule – bedeutete, dass die Deutschen die Sowjetunion überfallen haben. Aber wie Faschismus entsteht, wie ein faschistisches System funktioniert und welche Gefahren es birgt, darüber ist wenig bekannt.

Dieses mangelnde Wissen machen sich PopulistInnen jeglicher Couleur zunutze. So glauben liberale JournalistInnen häufig, sie könnten mit einfachen Vergleichen und provozierenden Fragen mit dem verhassten Sowjetsystem abrechnen und gleichzeitig einen Schlag gegen das System Putin landen. Dass dieses Konzept auch schiefgehen kann, zeigt der Medienskandal, der von der Onlineredaktion des Kreml-kritischen Kabelfernsehens Doschd (Regen) am 26. Januar ausgelöst wurde. Vor dem 70. Jahrestag des Endes der Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht stellte die Redaktion ihren ZuschauerInnen folgende Frage: «Hätte Leningrad kapitulieren müssen, um Hunderttausende Menschenleben zu retten?»

Diese Frage impliziert, dass die Sowjetführung die BewohnerInnen der Stadt damals sinnlos geopfert hatte, obwohl bekannt ist, dass das Aushungern der Stadt in das Konzept des faschistischen Vernichtungskriegs gehörte. Die RussInnen galten Deutschland als minderwertige Rasse. Doch darüber redet man in Russland nicht gerne, ist doch Deutschland heute ein strategischer Wunschpartner der Regierung.

Zwar entschuldigte sich die Fernsehleitung umgehend «bei allen, die sich gekränkt fühlen», doch der Skandal ging danach erst richtig los. Der Fehler der JournalistInnen kam dem Kreml offenbar sehr gelegen: Mehrere PolitikerInnen forderten, den kritischen Kanal abzuschalten, und die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, weil die Überlebenden der Blockade in ihrer Würde verletzt worden seien.

«Politische Jungfrauen»

Und was ist mit der russischen Linken? Gibt es sie überhaupt? «Ein echtes politisches Leben hat in Russland noch nicht begonnen», sagt Politologe Kagarlitski und bringt einen historischen Vergleich. Friedrich Engels habe einmal über die ÖsterreicherInnen gesagt, dass sie bis zur bürgerlich-liberalen Revolution von 1848 «politische Jungfrauen» gewesen sein. «Das Gleiche kann man heute über die Mehrheit der Russen sagen.» Das Problem der kleinen linken Gruppen sei, dass sie sich entweder den Liberalen andienen, wie Sergej Udalzow, Sprecher der Linken Front, oder sich zu sehr mit Themen beschäftigen, die im Westen wichtig sind, in Russland aber kein Echo finden würden, wie etwa Fragen der Ökologie oder der Gleichstellung der Geschlechter.

Laut Kagarlitski ist ein weiteres Problem der «russischen Linken», dass es keine linke, sondern nur eine stalinistische Tradition gibt. In Europa gebe es dagegen bei Sozialdemokratinnen, Kommunisten wie Trotzkistinnen Traditionen wie etwa die linke Grundüberzeugung oder die Organisationszugehörigkeit, die über mehrere Generationen weitergegeben würden. Hinzu komme, dass von den im Westen umworbenen kritischen russischen KünstlerInnen wie etwa Pussy Riot nur schwache Impulse zur Veränderung der Gesellschaft ausgehen würden: «Sie zielen nur auf ihren Medieneffekt in der internationalen Boheme ab», sagt der Politologe Boris Kagarlitski.

Wenn die Linken aber mit den sozialen Bewegungen in Russland zusammenarbeiten würden, könnten sie Millionen Menschen erreichen. «Diese Bewegungen kämpfen gegen die Sozialpolitik der Regierung, gegen die Kürzungen der staatlichen Ausgaben, für den Erhalt der Gesundheitsversorgung und stellen eine reale politische Alternative dar.» Sie hätten sich allerdings unabhängig von den linken Gruppen entwickelt, da deren AktivistInnen sich nicht für Fragen wie etwa den Erhalt von Kindergartenplätzen oder der RAN interessierten.

Das von Kagarlitski geleitete Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen (IGSO) will hier eine Brücke schlagen. So organisiert das Institut Seminare für GewerkschafterInnen und fördert den Erfahrungsaustausch linker AktivistInnen. Die vergangenes Jahr gegründete Internetzeitung «rabkor.ru» versucht zudem, den Dialog zwischen den verschiedenen, teils noch kleinen linken Gruppen zu organisieren.

Russland in der Krise: Bald gibts Streit

Nach der Winterolympiade in Sotschi werde es im Kreml ein Hauen und Stechen geben, raunen russische Journalisten und Korrespondentinnen heute schon. Dann würden die Widersprüche zwischen den GeheimdienstlerInnen und Militärs um Präsident Wladimir Putin und den Liberalen um Ministerpräsident Dmitri Medwedew neu ausbrechen. Auslöser eines Streits könnte die richtige Strategie gegen eine Wirtschaftskrise sein, deren Anzeichen in Russland immer deutlicher werden. So ist in den letzten Wochen der Kurs des Rubels im Verhältnis zum US-Dollar und zum Euro stark gefallen und steht jetzt dort, wo er im Februar 2009 in der Hochphase der globalen Finanzkrise stand.

Grund des fallenden Rubelkurses ist ein äusserst schwaches Wirtschaftswachstum, das 2013 bei 1,3 Prozent lag. Während einige von Putins WirtschaftsberaterInnen sich für staatliche Investitionen starkmachen, um die Konjunktur anzukurbeln, ist für die Liberalen um Medwedew vor allem wichtig, dass die Inflation gebremst wird und der Rubel stabil bleibt. Deshalb sind die Liberalen strikt gegen höhere Staatsausgaben. Aleksej Kudrin, Russlands liberaler Finanzminister von 2000 bis zu seiner Entlassung 2011, ist davon überzeugt, dass dem Rubel keine Gefahr droht, solange es nicht zu einem Preisrutsch bei Gas und Öl kommt.

Putin wird von vielen RussInnen kritisch gesehen. Dennoch gibt es nach Meinung der meisten Menschen derzeit keine Alternative zu ihm. Auch aus diesem Grund hoffen viele – vor allem in der Provinz – darauf, dass sein System die Wirtschaft mit Finanzspritzen aufpäppelt.

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