Arcade Fire: Streifzüge durch die Nacht
Am Anfang des neuen Albums der kanadischen Band Arcade Fire stand ein Konzert auf Haiti. Solidarität mit den Opfern des Erdbebens und die Wurzeln der Multiinstrumentalistin Régine Chassagne trieben das kanadische Kollektiv auf die Karibikinsel. Sie spielten ein kleines Konzert in einem Hotel und streiften später durch die Nächte des landeseigenen Karnevals. Die Rhythmen der Voodootrommeln liessen sie nicht mehr los – Sänger Win Butler war begeistert: «Mit den Voodoorhythmen können die Menschen auf Haiti sogar untereinander kommunizieren.»
Zurück in Montreal schrieb die Band über sechzig neue Songs, die besten dreizehn davon wollten sie aufnehmen. Dafür mieteten sie sich in einem Studio auf Jamaika ein und engagierten den ehemaligen Kopf der aufgelösten Elektro-Dance-Grösse LCD Soundsystem, James Murphy. Auf ihrem dritten Album, «Reflektor», konnten Arcade Fire, losgelöst von den Zwängen der Musikindustrie und ohne über das eigene Ego zu stolpern, genau das machen, was sie wollten – und das klingt völlig neu: 75 Minuten lang experimentieren die sechs KanadierInnen mit Taktwechseln, Tonbandschnipseln und den starren Regeln der Rockmusik.
Auch die Streifzüge durch den haitianischen Karneval haben ihre Spuren hinterlassen: In «Flashbulb Eyes» scheppert zufrieden eine Steeldrum, und die Gitarre zupft irgendwo zwischen Dub, Calypso und Ska. «It’s Never Over (Oh Orpheus)» wird von einem Beat getrieben, der einen sofort tanzen lassen möchte und eigentlich nur auf James Murphys Mist gewachsen sein kann. Trotz all der Neuerungen vergessen Arcade Fire die düstere Opulenz nicht, die sie einst bekannt machte. Win Butler richtet in den Texten seinen Befindlichkeitsreflektor auf die grossen Fragen und in die seelischen Abgründe seiner Generation, wie im grossartigen «Afterlife». Natürlich kann das alles anfänglich ziemlich überfordern.
Arcade Fire: Reflektor. Universal 2013