1:12-Initiative: Die WOZ beweist: Gleichheit schafft Freiheit

Nr. 46 –

Die Genossenschaft Infolink, Herausgeberin der WOZ, ist das grösste KMU der Schweiz, in dem Lohngleichheit herrscht. Ein Plädoyer für ein Lohnverhältnis 1:1, geschrieben aus der Innenperspektive.

Gleichheit schützt vor Snobismus nicht: WOZ-Abschlussredaktor Armin Büttner ist trotz seiner teuren Kleider Mensch geblieben

Ehrlich gesagt war mir die Sache mit der Lohngleichheit nicht besonders wichtig, als ich zur WOZ gekommen bin. An dieser Zeitung faszinierte mich anderes: die Freiheit, zu schreiben, was ich wollte. Genug Zeit dazu und fast unerschöpflicher Platz. Und der Pulverdampf einer widerständigen Geschichte, mit kritischen Journalistinnen und Journalisten, die daraus hervorgegangen sind.

Als Ferienvertretung wurde ich auf der Redaktion freundlich aufgenommen. Es gab viel zu tun damals im Herbst 2007: Die SVP rief zum Marsch auf Bern, der in einem heftigen Krawall endete. Die Wiederwahl von Parteiführer Christoph Blocher in den Bundesrat stand an, und keine Zeitung in der Deutschschweiz ausser der WOZ traute sich mehr zu schreiben, dass er abgewählt gehört. Dann kam die Finanzmarktkrise. Und mit ihr die Diskussion über Millionenboni, Lohngerechtigkeit und Wirtschaftsdemokratie. Die Börsenkurse brachen ein, die Bankenrettungen folgten, und unser kleines publizistisches Gefährt, die Genossenschaft Infolink, schien plötzlich bestens geeignet für die Reise durch die Wirrnisse der Gegenwart. Basisdemokratie, Lohngleichheit und Mitbesitz sind gemäss Statuten die drei Regeln der Genossenschaft, die die WOZ herausgibt: Die GenossenschafterInnen organisieren die Arbeit im Kollektiv, dazu gehören auch formelle Gremien wie Geschäfts- und Redaktionsleitung. Die GenossenschafterInnen verdienen alle gleich viel, unabhängig von ihrer Tätigkeit oder Funktion. Den GenossenschafterInnen gehört der Betrieb zu gleichen Teilen, solange sie für die WOZ arbeiten.

Heute kenne ich kein demokratischeres Gefühl, als an der jährlichen Generalversammlung gemeinsam eine Lohnerhöhung zu beschliessen oder auch nicht. Wobei ich so weit leicht zu reden habe. Ich bin etwas über dreissig Jahre alt und habe keine Kinder. Bevor es romantisch wird: Ein Reality-Check in der Genossenschaft. Wie ist die Lohngleichheit entstanden? Was denken die KollegInnen in Verlag, Redaktion und Produktion darüber?

Alle machten alles

«Es gab bei der Gründung lange Diskussionen über alles. Nur die Lohngleichheit gab nicht viel zu reden», erinnert sich Lotta Suter, 1981 bei der Gründung der WOZ dabei, heute berichtet sie für die Zeitung vor allem über die USA. «Unser Anspruch hiess: Alle machen alles. Daraus hat sich die Lohngleichheit folgerichtig ergeben. Im Übrigen gab es am Anfang auch nicht viel zu verteilen.» So hat es auch Res Strehle erlebt, ein weiterer Mitgründer, nun «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor: «Es gab keine Vorgesetztenfunktionen, alle hatten eine ähnliche Ausbildung und berufliche Erfahrung. Wir waren deshalb der Meinung, dass ein Einheitslohn richtig ist.»

In den ersten fünf Jahren betrug der Lohn rund 2000 Franken pro Monat, was unter Berücksichtigung der Teuerung heute 3500 Franken wären. «Einmal wurde ich von einem Steuerkommissär vorgeladen, weil er mir nicht glaubte, dass ich mit so wenig Geld leben könne», erzählt Lotta Suter. «Möglich war das nur, weil die WOZ damals eingebettet war in ein subkulturelles Netzwerk, mit Wohngemeinschaften und Secondhandläden.» Die Abschottung in eine eigene Welt sieht Suter andererseits auch als grösste Gefahr einer nicht marktkonformen Entlöhnung: «Gleicher und vor allem branchenunüblich tiefer Lohn für alle erfordert eine starke Identifikation mit dem Betrieb, die immer auch in die Geschlossenheit, ins Sektenhafte kippen kann.»

Der Einheitslohn, sagt Res Strehle, «brachte gute Stimmung und ein kollektives Gefühl von Gerechtigkeit». Der grösste Nachteil liege darin, «dass einzelne Kolleginnen und Kollegen bei steigendem Marktwert von der Konkurrenz relativ einfach abzuwerben sind». Auch für ihn hat sich der Wechsel finanziell ausgezahlt: Die Lohnspanne auf der «Tages-Anzeiger»-Redaktion schätzt Strehle ohne Personen in Ausbildung auf «rund 1:4».

Im Lauf der Jahre wurde der strikte Einheitslohn der WOZ leicht modifiziert, um biografischen Situationen Rechnung zu tragen: So werden zusätzlich zu den gesetzlich vorgeschriebenen auch freiwillige Kinderzulagen bezahlt, und bei mehrjähriger Betriebszugehörigkeit gibt es einmalig einen dreimonatigen Bildungsurlaub sowie zusätzliche Ferienwochen. Explizit nicht entschädigt wird gemäss Personalreglement das Weitermachen im Militär.

In der Geschichte der WOZ wurde der Einheitslohn nur einmal bewusst ausgehebelt und eine einzelne Leistung höher bewertet: Im Jahr 2002 beschloss das Kollektiv, in der Inserateakquisition auf grosse Kunden loszugehen, um der chronischen Finanzknappheit zu entkommen. Kilian Gasser wechselte zur WOZ, er war zuvor Anzeigenleiter beim Nachrichtenmagazin «Facts». «Man sah mich als eine Art Kommerzmotor und glaubte, so einer sei wohl nur mit höherem Lohn zu ködern.» Der Lohn in der Inserateabteilung lag tausend Franken über dem Einheitslohn. Nach nur einem Jahr stellte Gasser die Gleichheit selbst wieder her und beantragte eine Lohnkürzung: «Wenn man mehr verdient, kommt man sich früher oder später doof vor. Und wenn ich mal früher Feierabend machte, erst recht. Diesbezüglich kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, war mir tausend Franken im Monat wert», sagt Gasser.

Fehler und Erfolge

Dass die Höhe des Lohns und später der Renten wenig mit der Lohngleichheit zu tun hat, sondern mit politischen Werten, betrieblichen Entscheiden und gesellschaftlichen Entwicklungen, zeigen das grösste Versäumnis und der stärkste Fortschritt in der WOZ-Lohnentwicklung: die Altersvorsorge und der Lohnsprung in der Medienkrise.

«Die Entlöhnung auf der WOZ», meint Stefan Keller, langjähriger WOZ-Redaktor und Historiker, «ist nicht nur eine Heldengeschichte.» Er habe noch heute ein schlechtes Gewissen gegenüber pensionierten RedaktorInnen, die bloss eine kleine Rente erhielten. Aus politischen Gründen habe das Kollektiv die Einführung der Pensionskassen fundamental abgelehnt und entsprechend lange nur das Nötigste in die 2. Säule einbezahlt.

5000 Franken brutto

Erhöhte sich der WOZ-Lohn während vieler Jahre nur wenig, so gelang in der noch immer anhaltenden Medienkrise ein grosser Sprung. Dabei bewahrheitete sich das alte kapitalistische Gesetz: Wer gerade eine Krise hinter sich hat, kommt besser durch die nächste. 2005 hatte die WOZ unter anderem wegen mangelhafter Buchhaltung noch vor dem Konkurs gestanden und musste mit einer verzweifelten Spendenkampagne gerettet werden. «Wir beschlossen einen Personalstopp und eine rigide Kostenkontrolle», sagt Abschlussredaktor und Geschäftsleitungsmitglied Roman Schürmann. «Als in der Medienkrise das Bedürfnis nach Hintergrundinformationen und damit die Abozahlen stiegen, wurden für uns Lohnerhöhungen möglich.»

Heute können zwölfmal pro Jahr 5000 Franken brutto für hundert Prozent bezahlt werden, hinzu kommen bei gutem Geschäftsverlauf jährliche Gewinnbeteiligungen, «Wozifikationen» genannt, in der Höhe von einem oder zwei Monatslöhnen. Rund fünfzig Mitarbeitende teilen sich die dreissig Vollzeitstellen. PraktikantInnen erhalten einen geringen Lohn, weil auch die Ausbildung als Lohnbestandteil gezählt wird. An die Grenze stösst die reine Lehre bei den AuftragnehmerInnen: Honorare für Korrespondenten und freie Mitarbeiterinnen werden meist nur nach der Zeichenzahl der Artikel berechnet. Das Reinigungspersonal, von der Vermieterin der WOZ beschäftigt, verdient zwei Franken weniger pro Stunde. Die Werbeagentur wiederum, die branchenüblich mehr verlangen würde, stellt für ihre Arbeit pauschal einen WOZ-Monatslohn in Rechnung.

Trotz der Lohnerhöhungen liegt die WOZ noch immer unter dem Medianlohn der Branche. Roman Schürmann schliesst deshalb weitere Erhöhungen nicht grundsätzlich aus, sofern sie finanzierbar sind. «Es stellt sich aber auch allgemein die Frage, wie hoch ein vernünftiger Lohn sein sollte – etwa angesichts der ökologischen Konsequenzen. Ein höherer Lohn bedeutet meist mehr Konsum und damit auch mehr Ressourcenverbrauch.»

Ein verbreitetes Argument für die individuelle Lohnerhöhung lautet, dass sie den Ansporn und die Leistung der Einzelnen erhöhe. Was ist die Erfahrung dazu im Betrieb?

Für Markus Spörndli, Auslandredaktor, erhöht vielmehr die Lohngleichheit die Motivation, weil sie Transparenz über die Lohnpolitik herstellt. Jede und jeder entscheide mit dem Eintritt in den Betrieb, sie zu akzeptieren. «Man muss sich über anderes als einen hohen Lohn motivieren. Dies hat positive Auswirkungen auf die Zusammenarbeit.»

Spörndli arbeitete früher beim Staatssekretariat für Wirtschaft und in einem Beratungsbüro, wo er doppelt so viel verdiente. «Vorher war der Lohn zu einem Teil eine Entschädigung für Tätigkeiten, die ich nicht freiwillig gemacht habe. Nun werde ich für etwas bezahlt, das ich extrem gern mache, das wiegt die Lohndifferenz auf.» Vor dem Jobwechsel habe er wegen des Lohns gezögert: «Rückblickend war es nicht die Sorge, weniger zu verdienen, sondern vor allem ein psychologisches Problem: In der Normalbiografie muss es mit dem Lohn ja immer aufwärtsgehen.»

Gleichheit nicht mehr wegzudenken

«Verantwortung im Job und Verständnis, wenn mal ein Kind krank ist», benennt Claudia Gillardon die Pluspunkte. Sie ist im Verlag Teilzeit für die Werbung zuständig und Mitglied der Geschäftsleitung. Ihren Lebensunterhalt könnte die dreifache Mutter trotz der guten Kinderzulagen der WOZ nicht allein bestreiten. «Nur mit der grossen Unterstützung meines Mannes ist es für mich möglich, in dieser Form zu arbeiten.» Umgekehrt hätte sie ihre Kaderposition beim früheren Betrieb auch nur behalten können, wenn sie ihre Kinder grösstenteils hätte fremdbetreuen lassen.

«Mitbestimmung bei der Arbeitsgestaltung und der ungezwungene Umgang» zählen für Marcel Bamert, Teilzeitgrafiker in der Produktion. «Bei dermassen unterschiedlichen Tätigkeiten wie in unserem Betrieb lässt sich Leistung gar nicht vergleichen.» Er verstehe Betriebe nicht, die sich emanzipatorisch nennen würden und trotzdem keine Lohngleichheit hätten.

Spörndli, Gillardon und Bamert betonen alle, dass sie die Lohngleichheit bei der Anstellung nicht besonders interessiert habe. Heute ist diese für sie nicht mehr wegzudenken. Schwierig werde es nur, Leute für Tätigkeiten zu gewinnen, die neben der Entlöhnung keine zusätzliche Freiheit böten. Bei einer Zeitung sei dies aber bei kaum einer Tätigkeit der Fall. Spörndli könnte sich auch ein Lohnmodell von 1:1,5 vorstellen, falls die individuellen Lohnerhöhungen reglementiert wären – beispielsweise für die Mitarbeit und entsprechende Verantwortung in den Gremien. Bamert möchte im Gegenteil beantragen, dass PraktikantInnen einen existenzsichernden Lohn verdienen.

Sonja Wenger, Auslandredaktorin, arbeitet seit 8 Jahren bei der WOZ, Kulturredaktor Fredi Bosshard seit 27. Sie verdienen gleich viel, aber Bosshard darf zwei Wochen länger in die Ferien.

Kilian Gasser arbeitet heute als selbstständiger Inserateakquisiteur. Ein Betrieb wie die WOZ, meint er rückblickend, habe nur einen Nachteil gegenüber einem klassischen, hierarchischen Betrieb ohne Lohngleichheit: «Dort kennt man wenigstens den Sündenbock: den viel mehr verdienenden Chef!»